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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Amerikaner haben es satt Es gibt eine leise Hoffnung
Inmitten globaler Krisen und des chaotischen Wahlkampfs in den USA sehnen sich viele Amerikaner nach Normalität. Das zeigte ausgerechnet die TV-Debatte der Vize-Präsidentschaftskandidaten. Und darin liegt eine große Gefahr für Donald Trump.
Bastian Brauns berichtet aus Washington
Nichts scheint normal an diesem Abend in Amerika. Dabei vergeht inzwischen kaum ein Tag, an dem solche Nachrichten nicht auf die Menschen einprasseln: Im Nahen Osten hat der Iran rund 200 Raketen auf Israel abgeschossen. Zeitgleich töteten Terroristen in Jaffa unschuldige Passanten. In der Ukraine hat die russische Armee die Bergarbeiterstadt Wuhledar eingenommen. In Washington, nur ein paar Schritte von der Connecticut Avenue entfernt, saß eben noch der US-Präsident im "Situation Room", dem Lagezentrum des Weißen Hauses.
Seit Tagen regnet es in der US-Hauptstadt für diese Jahreszeit ungewöhnlich viel. Ein Stück weiter südlich sind wegen der Flutfolgen nach dem Hurrikan Helene mindestens 200 Menschen gestorben. Die Zahl könnte in den kommenden Tagen weiter steigen. Joe Biden, eben noch Krisenmanager für den Nahen Osten, ist jetzt nach North Carolina unterwegs, um Präsenz bei den Hurrikan-Opfern zu zeigen.
Das Chaos in der Welt macht auch vor Amerika keinen Halt. Und zu alledem befindet sich auch noch der Präsidentschaftswahlkampf zwischen Donald Trump und Kamala Harris in seiner polarisierenden Endphase. Die Spannung angesichts der Bedeutung dieser Wahl liegt in der Luft. Republikaner und Demokraten beschuldigen sich gegenseitig, bei einem Sieg des Gegners am 5. November würde das Land zugrunde gehen.
Amerikaner suchen einen Ausweg
An diesem Abend, gleich neben dem Weißen Haus in einem Bürogebäude an der Connecticut Avenue, haben sich in einem kleinen unscheinbaren Raum im 4. Stock rund 20 Menschen versammelt. Sie sind gekommen, um einen Weg aus diesem Chaos zu finden. Sie wollen heute, anders als von vielen Medien versprochen, kein spektakuläres politisches Feuerwerk erleben.
Sie sehnen sich nach Normalität und hoffen, diese ausgerechnet in der Fernsehdebatte zwischen J. D. Vance und Tim Walz zu finden – den Stellvertretern von Donald Trump und Kamala Harris. Drei große Bildschirme hängen an den Wänden in diesem kleinen Raum. Dazwischen mehrere Stuhlreihen und ein paar Sofas. Auf einem Tisch am Eingang liegen zwei Stapel farbiger Papierkarten: rote und blaue. Jeder Besucher – sei er Republikaner oder Demokrat – bekommt jeweils eine. Mit ihnen sollen sie später signalisieren, ob ihr nächster Gesprächsbeitrag zugunsten der Republikaner (rot) oder der Demokraten (blau) ausfällt.
Der Grund für diese Methode: Sie soll eine geregelte, respektvolle Diskussion ermöglichen und vermeiden, dass eine Seite den Dialog dominiert. Der Rahmen, in dem die rund 20 Amerikaner das tun, ist besonders: Denn diese "Watch Party" zur Fernsehdebatte zwischen Tim Walz und J. D. Vance wird von "Braver Angels" bestritten. Das ist eine seit sieben Jahren bestehende Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, die politische Spaltung in den USA zu überwinden.
Die grundlegenden Teilnahmevoraussetzungen der "Braver Angels" liegen auf den Plätzen für die Besucher aus. Was nach Regeln für eine Schulklasse klingt, sind Leitplanken für Amerikaner, die einen Ausweg suchen.
- "Wir äußern unsere Meinungen frei und vollständig, ohne Angst."
- "Wir behandeln Menschen, die nicht unserer Meinung sind, mit Ehrlichkeit, Würde und Respekt."
- "Wir schätzen die Gelegenheit, mit Andersdenkenden zu sprechen."
- "Wir glauben, dass jeder von uns blinde Flecken hat, und dass niemand es nicht wert ist, gehört zu werden."
- "Wir suchen nach Gemeinsamkeiten, wo sie existieren, und versuchen, Wege zu finden, zusammenzuarbeiten."
- "Bei 'Braver Angels' belehrt keine Seite die andere, was sie denken oder sagen sollte."
Viele sehnen sich nach Normalität
Mit diesen Grundsätzen im Hinterkopf beginnt die Debatte. Und Walz und Vance tauschen sich tatsächlich weitgehend ruhig und fast sachlich aus. Die aggressive Rhetorik der vergangenen Wochen scheint weg zu sein. Gesprochen wird über Themen wie Einwanderung, über das Gesundheitswesen und die Wirtschaft. Doch der Austausch bleibt respektvoll, ohne persönliche Angriffe oder überspitzte Polemik.
Walz beschimpft Vance nicht als "weird", also extrem seltsam. Und Vance nennt Walz keinen Kommunisten. Die beiden geben sich sogar die Hand und versprechen, im Fall einer Niederlage den anderen grundsätzlich zu unterstützen. Dieses Auftreten hat einen Grund: Walz und Vance wollen bei dieser einzigen Vize-Debatte vorwiegend die unentschiedenen Wählerinnen und Wähler erreichen. Harsche Töne könnten diese schnell verschrecken.
Es gibt aber auch Studien, die zeigen, wie sehr eine Mehrheit der Amerikaner die politische Spaltung ihres Landes satthaben. Ob Republikaner, Demokraten und Unabhängige – in jedem der Lage sehen mehr als 50 Prozent der Befragten einer Studie von "Citizen Data" die Polarisierung als eine echte Gefahr für die Demokratie.
Im vierten Stock der Connecticut Avenue in Washington teilen die Organisatoren den Teilnehmern einen Fragenkatalog aus. Der soll dabei helfen, die Diskussion zur Debatte zu strukturieren:
- "Hat Sie etwas inspiriert, das einer der Kandidaten gesagt hat?"
- "Was hat Sie an Ihrem bevorzugten Kandidaten heute Abend begeistert?"
- "Was könnte Ihr Kandidat noch besser machen?"
- "Haben Sie persönliche Erfahrungen mit Themen, die die Kandidaten ansprechen?"
- "Gibt es einen Punkt, bei dem Sie mit Ihrem Kandidaten nicht übereinstimmen?"
- "Was hätten die Kandidaten anders machen sollen?"
- "Was bereitet Ihnen die größten Sorgen, wenn Sie diese Debatte sehen?"
- "Wie fanden Sie die Moderation von CBS?"
Plötzlich gibt es Einigkeit
Schon in der ersten Debattenpause macht Randy Lioz, ein Berater aus Virginia in der ersten Reihe, eine bemerkenswerte Beobachtung. "Ich finde es unglaublich erfrischend, eine Debatte zu sehen, die eine gewisse Substanz hat", sagt er und hält eine rote Karte in der Hand. Die übrigen Leute im Raum klatschen angesichts seiner Worte. "Es fühlt sich total old school an", sagt Randy, der sich als Demokrat bezeichnet. Er gesteht J. D. Vance sogar zu, besser herüberzukommen als Tim Walz. Der sei viel zu nervös und würde seine Sätze nicht richtig beenden. "Daran sollte er arbeiten", sagt Randy.
Auf sein Urteil kann sich die Gruppe zu diesem Zeitpunkt einigen: Der moderate und souveräne Auftritt von J. D. Vance könnte ihn zum Gewinner der Debatte machen. Auch als Tim Walz ins Schlingern gerät, schütteln die Menschen im Saal kollektiv ihre Köpfe. Niemand versteht hier, warum der Demokrat bei offensichtlichen Ungereimtheiten in seinem Lebenslauf immer nur sagt, er habe sich da lediglich versprochen.
Die Atmosphäre im Raum ist geprägt von einer zarten Zuversicht, dass Dialog möglich ist, auch wenn man nicht einer Meinung ist. Im zweiten Teil der Debatte wird der Anspruch der "Braver Angels" dann aber auch auf eine harte Probe gestellt. Es ist der Moment, in dem J. D. Vance konsequent eine Antwort dazu vermeidet, ob Donald Trump die Wahl im Jahr 2020 verloren hat oder nicht. Die große Wahllüge ist plötzlich der Elefant im Raum. Die Diskussionsleiterin fragt, ob Republikaner anwesend sind, die glauben, dass Trump gewonnen hat.
Es meldet sich Rodger Roundy, ein Designer aus der Region um Washington. "Ich denke, dass Trump gewonnen hat." Im Raum wird es still, aber es bricht kein Streit aus. Gegenseitige Belehrungen sollen explizit vermieden werden. Rodger glaubt im Grunde, dass beide Seiten unehrlich bei den Stimmauszählungen agieren würden. Die Demokraten hätten ihren angeblichen Betrug nur besser organisiert als die Republikaner, erklärt er später auf Nachfrage. Aber auch er gesteht seinerseits Tim Walz zu, dass er etwa beim Thema Abtreibung eine gute Figur gemacht habe.
Michael Carleton, ein Pensionär in Reihe drei macht sich Sorgen um die Demokratie. Er widerspricht Rodger nicht offen, sondern spricht lediglich für sich. "Ich bin entsetzt, wir sehen hier einen J. D. Vance, der die Worte von Donald Trump reinwäscht. Nichts von dem, was er heute Abend sagt, entspricht dem, was Trump sonst jeden Tag sagt", so Michael. Besonders beunruhigen würde ihn, dass Vance partout nicht geantwortet habe, ob er Trump im Zweifel in den Arm fallen würde, wenn dieser womöglich wieder versuchen würde, das Wahlergebnis zu bekämpfen.
Eine schlechte Nachricht für Trump
Als die Debatte schließlich endet, macht Rodger Roundy, der Mann der an Trumps Wahllüge glaubt, einen Vorschlag: "Ich finde, die beiden sollten eigentlich als Präsidentschaftskandidaten antreten. Sie können beide reden und sachlich über Politik reden." Es ist ein Eindruck, den wiederum viele teilen. Denn zumindest dieser Austausch zwischen Vance und Walz im Fernsehen gibt ihnen eine Hoffnung: dass ihr Ansatz bei den "Braver Angels" nicht nur etwas für eine kleine Splittergruppe ist, sondern selbst auf der erbarmungslosen politischen Bühne Amerikas wieder mehr Anklang finden kann.
Wie groß die Sehnsucht nach Normalität in den USA ist, zeigt sich ausgerechnet anhand dieser Debatte zwischen den Stellvertretern Donald Trumps und Kamala Harris'. Viele sind der Daueraufregung derart überdrüssig, dass sie sich vermeintliche Langeweile wünschen. Doch die kommenden Wochen werden dieses Bedürfnis kaum erfüllen. Zumal ein Kandidat dafür bekannt ist, sich weder an die Respekt-Regeln der "Braver Angels", noch an sonstige Regeln zu halten. Doch der drängende Wunsch vieler Amerikaner nach Normalität ist bei dieser Wahl die größte Gefahr für Donald Trump.
- Eigene Recherche vor Ort