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Mythen zur DDR: Die Wirtschaft war tot – trotzdem halten sich die Legenden


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Mythen zur Wende
Die Wirtschaft war tot – trotzdem halten sich die Legenden

MeinungVon Gerhard Spörl

Aktualisiert am 14.10.2019Lesedauer: 6 Min.
Stahl- und Walzwerk in Unterwellenborn, Thüringen: Die Kombinate und Betriebe der DDR waren ökonomisch am Ende. Trotzdem halten sich viele Mythen über die Wirtschaft des Landes.Vergrößern des Bildes
Stahl- und Walzwerk in Unterwellenborn, Thüringen: Die Kombinate und Betriebe der DDR waren ökonomisch am Ende. Trotzdem halten sich viele Mythen über die Wirtschaft des Landes. (Quelle: imago-images-bilder)

Im Herbst 1989 wollten die Bürger die DDR los haben, weil sie ökonomisch am Ende war. Deshalb blieb auch so wenig von den Kombinaten und Betrieben übrig – umso mehr aber von den Mythen rund um die Folgen der Einheit.

Momentan lese ich alles, was über das Ende der DDR und die Folgen der Wiedervereinigung zu lesen ist. Die permanente Gegenwart des Gewesenen und Gewordenen dürfte uns bis zu den Feierlichkeiten am 9. November beherrschen.

Mich irritiert, wie wenig trotz der Dauerbehandlung der immer selben Fragen und Probleme geklärt ist. Erstens: Wann begann der Anfang vom Ende der DDR? Zweitens: Was war dieser andere deutsche Staat? Drittens: Hat sich der Westen am Osten kaltblütig bereichert?

Erstens: Der Anfang vom Ende ist noch am leichtesten zu bestimmen. In der Nacht zum 11. September 1989 öffnete Ungarn seine Grenze zum Westen und Tausende DDR-Bürger nutzten sie zur Flucht. Damit war der Eiserne Vorhang gefallen. Im Nachhinein könnte man daraus schließen, dass der Fall der Mauer nur die logische Konsequenz dieses Ereignisses war.

Das Datum war alles andere als ein Zufall. Horst Teltschik, der außenpolitische Berater Helmut Kohls, hatte in Geheimverhandlungen mit den Budapester Reformern diesen Tag festgelegt. Denn exakt am 11. September begann der CDU-Parteitag in Bremen, auf dem Helmut Kohl gestürzt und durch Lothar Späth ersetzt werden sollte. Die Revolte brach zusammen, als sich die frohe Kunde von der Grenzöffnung verbreitete.

So konnte Helmut Kohl zum Kanzler der Einheit werden. Lothar Späth musste bald darauf als Ministerpräsident von Baden-Württemberg zurücktreten und wurde später Vorstandsvorsitzender von Jenoptik, einem DDR-Vorzeigebetrieb, den er sanierte und in der Marktwirtschaft etablierte.

Die Öffnung der Grenze war das Zeichen für den friedlichen Zusammenbruch der bipolaren Welt. Michail Gorbatschow schickte keine Panzer wie seine Vorgänger 1953 in die DDR, 1956 nach Ungarn,1968 nach Prag. Noch im Januar 1990 drängten die sowjetischen Militärs den Kremlchef dazu, Truppen nach Ost-Berlin zu schicken und die Mauer wieder hochzuziehen, aber Gorbatschow war nicht Chruschtschow oder Breschnew und schon gar nicht Stalin.

Die DDR: Stachel im Fleisch des Westens

Was war die DDR? Sie war die ultimative Beute der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg, der Stachel im Fleisch der westlichen Besatzungsmächte. Sie war ein stalinistischer Satellitenstaat in ihren Anfängen, ließ 1961 die Mauer bauen, weil ihr die Menschen davonliefen.

Ohne Moskau keine DDR. Ohne die Mauer keine DDR. Ohne die deutsch-deutsche Entspannungspolitik keine Entspannung nach innen. Ohne Milliarden aus dem Westen für Kredite und Häftlingsfreikäufe kein Überleben bis 1989.

Zweitens: Am 9. November ist es 30 Jahre her, dass die Mauer fiel. Heute muss man mindestens 50 Jahre alt sein, um die DDR im eigenen politischen Gedächtnis zu tragen.

"Die Zeit" veröffentlichte vor Kurzem eine repräsentative Umfrage über den Vergleich von damals mit heute. Heraus kamen erstaunliche Ergebnisse: Nur 26 Prozent der Ostdeutschen fühlen sich heute im vereinten Deutschland wohler als in der DDR. Nur 41 Prozent der Älteren fühlen sich mit der Demokratie besser bedient.

Wer sich hinter Gefühlen verschanzt, macht sich unangreifbar

Nun ist das so eine Sache mit den Gefühlen. Gefühle sind kein Argument. Gefühle sind Schutzzonen. Wer sich dahinter verschanzt, macht sich unangreifbar. Tatsachen kommen dagegen nicht an, das ist ihr unschlagbarer Vorteil.

Gefühle wollen ein schlechtes Gewissen bereiten. Sie schinden Eindruck: So ist das also, so fühlt ihr euch. Dabei wird nur zu oft das Gefühl mit Denken verwechselt – natürlich vor allem von den Gefühligen, aber seltsamerweise auch von den Fragern, die dann sagen: Man muss auf die Gefühle der Ostdeutschen Rücksicht nehmen, egal ob es um die DDR oder um die AfD geht.

Empirische Untersuchungen mit plausiblen Deutungen sind die Ausnahme. Zum Beispiel Steffen Mau, Professor für Soziologie an der Humboldt-Universität: Er schrieb ein Buch über Lütten Klein, einen Stadtteil Rostocks, in dem er aufgewachsen war. Im Kleinen umkreist er das Große: den Transformationsprozess von der DDR zu Gesamtdeutschland.

Die DDR definiert Mau als "eine stark nivellierte Gesellschaft mit einer proletarischen Mentalität und einer entbürgerlichten Kultur", die Ostdeutschland noch heute präge. Der Übergang zur Frage, weshalb die AfD hier besonders erfolgreich ist, ist fließend: "Es spiegelt die Urerfahrung der Ostdeutschen: Man geht auf die Straße, tut seinen Unmut kund und hofft, dass sich etwas ändert. Doch der Protest wird nie überführt in die kleinteilige, oft langweilige und nervige, manchmal wunderbare Erfahrung der Demokratie", sagt Mau in einem Interview zum Buch.

So ist das also, Protest als Prinzip, wenn etwas nicht läuft wie erhofft. Und die Erfahrung von 1989, dass zusammenbrechen kann, was für die Ewigkeit geschaffen schien, ist unvergessen.

Weit mehr als eine Million Menschen haben sich nach der Vereinigung aus dem Osten in den Westen begeben. Einige sind zurückgekommen, eher Männer als Frauen. Den Grund für die Diskrepanz liefert Steffen Mau: Mehr oder weniger gut ausgebildete Frauen hatten im Westen bessere Chancen als Männer – nicht unbedingt auf dem Arbeitsmarkt, wohl aber auf dem Heiratsmarkt. Daher der Überschuss an Männern vor allem in ländlichen Gebieten Ostdeutschlands und der Unterschuss an Frauen.

Was die Menschen sagen, fühlen und meinen, wird von diesem Soziologen beispielhaft interpretiert: Dem Verstehen folgt das Erklären, das in Thesen mündet. Das Empirische, das Umfragen bedeutungsvoll anhäufen, ist ohne Deutung nicht einmal halb so viel wert.

Drittens: Vom Osten aus gefühlt, hat der Westen den Osten unterworfen. Ausgebeutet. Ausgeschlachtet. Hat er?

Ja und nein. Zuerst, nach dem Mauerfall, war es umgekehrt: Da hat der Osten mit seinem Wunsch nach Vereinigung den Westen überrannt und zum Handeln gezwungen. Ende November verkündete Helmut Kohl im Bundestag seinen Zehn-Punkte-Plan zur deutschen Einheit. Horst Teltschik, der ihn schrieb, erzählte mir, er sei damals davon ausgegangen, dass es fünf bis zehn Jahre dauern würde, bis aus zwei eins wird.

Aber aus der Demonstrationsbewegung wurde eine Fluchtbewegung. Deren Motto lautete: Wenn die D-Mark nicht zu uns kommt, kommen wir zu ihr.

Am 1. Juli konstituierte sich die deutsch-deutsche Währungsunion. Der Umtausch 1:1 war wunderbar für die Menschen und ihr Erspartes. Aber er war eine Katastrophe für Kombinate, Betriebe und Handel. Von nun an mussten sie Gehälter und Grundstoffe in D-Mark bezahlen und ihre Schulden nahmen auch D-Mark-Gestalt an.

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Inzwischen waren dem DDR-Handel aber der Markt in der Sowjetunion und in den anderen Ostblockstaaten weggebrochen. Und die DDR-Bürger ignorierten jetzt Ostwaren. Sie kauften lieber Westwaren, was die ökonomischen Folgen daheim verschärfte.

Treuhand als Beelzebub

Als der große Beelzebub bietet sich die Treuhand an. Sie besaß das Monopol auf den Umgang mit der DDR-Wirtschaft in sämtlichen Teilen. In der Regel privatisierte sie und sanierte nur ausnahmsweise. Aber die Währungsunion mit ihren unübersehbaren Folgen war nicht nicht auf ihrem Mist gewachsen. Was vorher moribund war, war jetzt tot.

Die Treuhand war ein politisches Instrument. Sie unterstand technisch dem Finanzministerium. Erst nach der Bundestagswahl Ende 1990, bei der Helmut Kohl über Oskar Lafontaine siegte, durfte die Treuhand loslegen. Und als der Unmut über ihre Entscheidungen zum Hungerstreik der Kali-Arbeiter in Bischofferode führte, griff die Bundesregierung ein und sorgte mit Milliardensubventionen für den Aufbau der Chemieproduktion in Buna/Leuna und bei Jenoptik, wovon der gefallene Kohl-Rivale Lothar Späth profitierte.

Wieder war Kanzler Kohl der Retter. Zugleich war er aber Mr. Treuhand.

Die Treuhand zieht bis heute alle Pfeile auf sich. In Wahrheit überließ sie dem Markt die Oberhand, wie es die Koalition aus CDU/CSU und FDP für richtig hielt. So wirtschaftsliberal war der Zeitgeist in diesen Jahren. Erst in der Weltfinanzkrise 2007 löste er sich in Wohlgefallen auf.

Kohl hielt sich aus der Arbeit der Treuhand heraus

Der Einheitskanzler hielt sich fein aus der Treuhandarbeit heraus, die zu Massenentlassungen und hoher Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland führte. Er hatte den Nutzen daraus, dass die Treuhand als eine autonome Institution galt, die aus zynischen westdeutschen Managern bestand, die im Interesse ihrer Westfirmen ausschlachten durften, was auszuschlachten war. Übrigens kamen 80 Prozent der Treuhand-Mitarbeiter aus Ostdeutschland.

Die westlichen Gewerkschaften trugen mit ihren enormen Lohnforderungen für Ostbetriebe zur Vertiefung und Verbreiterung der Krise bei. Auch sie wollen davon heute nichts mehr wissen und lenken den Post-DDR-Zorn heuchlerisch um auf die Treuhand, die es nun auch schon 25 Jahre nicht mehr gibt.


Die DDR ist zusammengebrochen, weil sie wirtschaftlich tot war, genauso wie die Sowjetunion wenig später. Sicherlich wären mehr Betriebe rettbar gewesen, wenn der Westen gewollt hätte – wenn die Bundesregierung mehr Subventionen locker gemacht hätte. Wollte sie aber nicht. Hat sie nie zugegeben.

Deshalb umwuchern Legenden die historische Wahrheit.

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