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Kolumne zur großen Koalition: Ans Werk! Und groß gedacht!


Meinung
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Gegen die Verächter der liberalen Demokratie
Ans Werk! Und groß gedacht!

MeinungEine Kolumne von Gerhard Spörl

05.03.2018Lesedauer: 5 Min.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Horst Seehofer: Das künftige Bundeskabinett muss jetzt zügig handeln.Vergrößern des Bildes
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Horst Seehofer: Das künftige Bundeskabinett muss jetzt zügig handeln. (Quelle: Nicolas Armer/dpa)
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Mit Selbstbeschäftigung haben Merkel, Seehofer und die anderen nicht nur Zeit verloren, sondern Vertrauen verspielt. Welche Folgerungen zieht die Kanzlerin daraus? Am besten macht sie in ihrer letzten Amtszeit einiges anders als zuvor.

Am 14. März, wenn die Kanzlerin gewählt wird, sind 171 Tage seit der Bundestagswahl vergangen. Das hat es noch nie gegeben, es ist seltsam, ärgerlich und folgenreich. Alle haben Vertrauen verloren: die beiden Parteien, die immer noch so tun, als seien sie Volksparteien; die Regierung, bevor sie überhaupt installiert ist; die Kanzlerin, so mürbe und gleichmütig, wie sie ist; die liberale Demokratie, die ihren Verächtern erstaunlich viel Raum lässt.

Es wird Zeit, dass es losgeht. Ich war in Zürich über das Wochenende und las dort ein Graffito: Ans Werk, stand da mit Ausrufezeichen. Ja, ans Werk!, sollten wir der Kanzlerin und Ihrer Truppe zurufen. Hört auf mit dem Menscheln! Lasst schnellstens wissen, was ihr euch vorgenommen habt! Und denkt zur Abwechslung mal groß und handelt auch so!

Mit einem gewissen Neid schaue ich Emmanuel Macron zu, der sich enorm viel vorgenommen hat, viel riskiert und jede Unterstützung von Deutschland verdient, die wir ihm geben können. Längst schon hätte er eine ernsthafte Antwort auf seine Vorschläge verdient gehabt, wie die Europäische Union ausgebaut werden kann. Das ist die Sache der Kanzlerin, zumal sich jeder Außenminister/-in zuerst einarbeiten muss, der nicht Sigmar Gabriel heißt, wenn auch Jürgen Habermas ein Wort für ihn eingelegt hat.

Schluss mit der Selbstbeschäftigung!

Deutschland ist eine gehobene Mittelmacht. Ich würde schon gerne von der Kanzlerin hören, was sie von der neuen amerikanischen und der russischen Nukleardoktrin denkt. Oder über den Handelskrieg, den Donald Trump ausgelöst hat und auf den Europa eine Antwort finden muss. Es hat sich einiges aufgehäuft für Grundsatzreden. Die Regierungserklärung sollte bitte nicht eine öde Ansammlung gedankenfreier Zulieferungen aus den Fachministerien sein.

Wir wissen ja, dass diese Kanzlerin kein Cicero und kein Cato und noch nicht einmal ein Willy Brandt ist, aber wie wäre es mit einer Überraschung? Wir wären ja schon über eine angemessene Rede auf der Höhe der Zeit glücklich. So viel Ehrgeiz möchte schon sein. Jedenfalls wäre die Regierung gut beraten, wenn sie die trostlose Selbstbeschäftigung der CDU mit sich selber, der CSU mit sich selber, der FDP mit sich selber und vor allem der SPD mit sich selber durch ausnahmsweise entschlossenes und beredtes Handeln vergessen ließe.

Das Schwerste besteht darin, verlorenes Vertrauen zurückzuholen. Am besten fängt die vierte Regierung Merkel ganz schnell damit an, ohne groß darüber zu reden. Mehr Demokratie wagen, schwebte Willy Brandt 1969 vor. Mehr wagen, damit wären wir schon zufrieden. Mehr Schwung, mehr Esprit, eine Regierung, die weiß, was sie will: Das wär’s doch.

Nach den offenen Grenzen muss Merkel Grenzen setzen

Zu verlieren hat Angela Merkel eigentlich nichts. In ihrer letzten Amtszeit kann sie nur gewinnen. Die Alternative wäre bitter: Die Schrumpfung der SPD zur dauerhaften Bedeutungslosigkeit und die Selbstmarginalisierung der Union. Das kann keiner wollen, denn die liberale Demokratie, wie wir sie kennen und schätzen, wäre nicht mehr dieselbe. Das Land ist nach rechts gerückt. Das Jahr 2015 bedeutet eine wichtige Zäsur, die ihre Folgen entfaltet.

Falsch war nicht, dass die Kanzlerin die Grenzen öffnen ließ und eine Million Flüchtlinge ins Land kamen. Falsch war, dass der humane Akt unverbunden blieb. Von früheren Kanzlern hätte Angela Merkel lernen können, dass in schwierigen Fällen eine Doppelstrategie angemessen ist. Jetzt muss sie das Fehlende nachholen. Es geht nicht in erster Linie um den Islam, nicht in erster Linie um die Religion, sondern um die kulturelle Differenz.

Wer Grenzen öffnet, muss auch Grenzen setzen. Wer hier lebt, muss sich einfügen. Was einigermaßen ungelenk mit Leitkultur umschrieben wird, muss die Regierung umgehend definieren. Gehört nicht die Gleichberechtigung der Geschlechter dazu und was folgt daraus für die Integration der Flüchtlinge? Was haben wir darüber diskutiert, ob eine Lehrerin ein Kopftuch tragen darf. Was ist mit der Burka, was mit dem Schwimmunterricht der Schülerinnen? Welchen Islam meinen wir, wenn wir sagen, er gehört zu uns? Und welcher gehört nicht zu uns?

Angst vor immer mehr "leeren Herzen"

Wo es um die liberale Demokratie und kulturelle Differenzen geht, sollte man eine hitzige Diskussion unter den Intellektuellen erwarten. Der ehrwürdige Jürgen Habermas plädiert unermüdlich für ein demokratisches Europa. Gut so. Im "SZ-Magazin" habe ich ein wunderbares Gespräch Daniel Kehlmanns mit Salman Rushdie über das Schreiben und das Leben in New York gelesen. Keine Frage über das real existierende Deutschland. Warum eigentlich nicht?

Daniel Kehlmanns neues Buch „Tyll“ handelt vom Dreißigjährigen Krieg. Ist das ein Zufall? Juli Zeh hat gerade „Leere Herzen“ veröffentlicht, ein Buch, das in einem zukünftigen Deutschland spielt, das sich der Rechten unterworfen hat, das deutsche Äquivalent zu Michel Houellebecqs „Unterwerfung“. Wer nimmt den Faden auf und debattiert über die liberale Demokratie, die wir nicht verlieren wollen?

Manchmal merkt man schmerzlich, dass einer fehlt. Einer wie Frank Schirrmacher, der groß von sich denkt, leidenschaftlich gerne ein großes Rad dreht und keine Gelegenheit für eine große Debatte vorübergehen lässt. Die Fantasielosigkeit ist kein Privileg der Kanzlerin, sie ist epidemisch. Es gibt kleine Inseln. Im neuen „Cicero“ findet sich eine spannende Titelgeschichte über die kulturellen Differenzen und die Angst vor der Auseinandersetzung damit.

In der "FAZ" las ich eine Reportage über den Essener Norden, in dem sich die Probleme türmen: Dauerarbeitslosigkeit, Gettos, dazu frisch angekommene Flüchtlinge – soziale Probleme, kulturelle Gegensätze, Kriminalität, Wut, Hilflosigkeit. Die SPD war mal die Monopolpartei im Ruhrgebiet. Wen wählen wohl diejenigen, die hier noch wählen gehen? Oder in Cottbus?

Hinschauen, ernst nehmen, handeln

Unten, wo das Leben konkret ist: Keine Partei, keine Regierung kommt noch daran vorbei, sich mit den Veränderungen im Land ernsthaft zu befassen. Mit Obergrenzen oder Quoten für den Familiennachzug ist wenig getan. Von einem Essener Sozialdemokraten, der in der "FAZ"-Reportage zu Wort kam, lässt sich einiges lernen und auch von der SPD-Bürgermeisterin im Berliner Bezirk Neukölln: mehr Lehrer braucht das Land, mehr Sozialarbeiter, mehr Polizisten.

Und das Soziale muss mit dem Rechtsstaat verknüpft werden, sodass kriminell gewordene Flüchtlinge auch abgeschoben werden. Das ist nicht alles, aber ohne das ist alles nichts. Das kann man rechts nennen oder auch links oder auch pragmatisch oder vielleicht auch ganz einfach richtig. Egal, darüber muss geredet werden, gestritten, gerungen, nur schweigen ist nicht erlaubt.

Mit dem Hinschauen beginnt es. Mit dem Ernstnehmen. Das es so ist, wie es ist, wissen wir aus zahllosen Analysen, auch aus linkskonservativen Kommentaren, in denen die Aushöhlung der liberalen Demokratie beklagt und manchmal mit Lustangst beschworen wird, als wäre ein bisschen Weimarer Republik irgendwie wünschenswert und dem Biedermeier vorzuziehen, der neulich doch noch geherrscht hat.

Es gibt auch Ausnahmen. Auf YouTube kann man sich die Reden im Bundestag anhören, die so unterschiedliche Menschen wie Cem Özdemir oder Wolfgang Kubicki gehalten haben. Sie haben die liberale Demokratie gegen ihre Verächter offensiv verteidigt. Wie wäre es, wenn wir uns an ihnen ein Beispiel nähmen?

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