Schüsse und Massenpanik in Kabul Das Chaos am Flughafen wird immer dramatischer
Schon bald soll es keine Evakuierungen aus Afghanistan mehr geben. Die Lage am Flughafen spitzt sich zu. Immer wieder kommt es zur Massenpanik, mehrere Menschen sind bereits gestorben.
Während der endgültige Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan näher rückt, spielen sich am Flughafen Kabul immer dramatischere Szenen ab: Die drei Zugangstore des Flughafens müssten wegen des Ansturms verzweifelter Afghanen immer wieder geschlossen werden, berichtete der französische Botschafter in Kabul, David Martinon. "Es könnte jederzeit vorbei sein" mit den Evakuierungsflügen, räumte ein Vertreter Frankreichs mit Blick auf das internationale Ringen um eine Verlängerung des Rettungseinsatzes ein.
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Diese Befürchtung ist berechtigt. Am Dienstagabend (Ortszeit) kündigte US-Präsident Joe Biden an, dass er an dem Abzug der US-Truppen bis zum 31. August festhalten möchte. Die USA sichern den Kabuler Flughafen, verlassen sie Afghanistan, werden ihre europäischen Partner mitgehen müssen.
Biden begründete das Ende der Evakuierungsmission mit einer schlechter werdenden Sicherheitslage: unter anderem die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) plane Anschläge. Jeder Tag, den man länger vor Ort bleibe, sei ein weiterer Tag, an dem ein örtlicher Ableger der Terrormiliz versuche, den Flughafen der afghanischen Hauptstadt anzugreifen, sagte Biden am Dienstag in Washington. Es gebe die "akute und wachsende Gefahr eines Anschlags".
Südtor bei Massenpanik zusammengebrochen
Das Ablaufdatum der Evakuierungsmission könnte den Andrang auf den Flughafen noch einmal verschärfen, weil nun viele Menschen in Afghanistan Angst haben, keinen Flug mehr aus dem Land zu bekommen.
Am Nordtor des Flughafens war es schon am Montag zu einem Feuergefecht mit Unbekannten unter Beteiligung der Bundeswehr gekommen, bei dem ein afghanischer Soldat getötet und drei weitere verletzt wurden. Das Südtor sei infolge einer Massenpanik zusammengebrochen und mittlerweile durch gepanzerte Container ersetzt worden, gab Martinon bei einer Videokonferenz mit Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian und Verteidigungsministerin Florence Parly zu Protokoll, die das französische Evakuierungs-Drehkreuz Al-Dhafra in den Vereinigten Arabischen Emiraten besuchten.
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Die Container würden "den Zugang völlig versperren und die britischen Fallschirmjäger zu akrobatischen Kunststücken zwingen, um die auszufliegenden Afghanen hineinzubringen", erzählte der Botschafter. Draußen vor den Toren warten Tausende in unerträglicher Hitze darauf, sich durch die Menge einen Weg in eines der rettenden Flugzeuge bahnen zu können. Mehrere Menschen wurden schon erdrückt. "Die Bedingungen werden immer schwieriger. Sie zwingen uns, uns ständig anzupassen," sagte Martinon.
Auch von deutscher Seite wird Tag für Tag berichtet, dass sich die Situation am Flughafen Kabul zuspitze. Außenminister Heiko Maas berichtete am Montagabend, dass sich die Lage "weiter chaotisiert habe". Er forderte die Menschen auf, sich "nicht auf eigene Faust zum Flughafen zu begeben".
"Wir werden nicht alle rausbekommen können"
Angesichts der knappen Zeit gestand er am Dienstag ein: "Wir werden in den verbleibenden Tagen dieser militärischen Evakuierungsaktion nicht alle aus Afghanistan rausbekommen können." Gemeint sind damit die tausenden afghanischen Ortskräfte deutscher Stellen sowie afghanische Demokratie- oder Menschenrechtsaktivisten, die unter der Herrschaft der radikalislamischen Taliban in Gefahr sind.
Auch Frankreich, das über das Drehkreuz Al-Dhafra vor allem Menschen in Sicherheit bringt, die wegen ihres Engagements für Frauenrechte, Bildung oder Kultur vor den Taliban flüchten, spricht von noch "tausenden von Anträgen" bedrohter Afghanen. Ähnliches ist aus London oder aus Washington zu hören.
"Also bleiben uns drei Tage"
Derzeit sichern knapp 6.000 US-Soldaten den Flughafen. Sie sollen aber nach den bisherigen Plänen bis zum 31. August abziehen. Mehrere europäische Staaten haben bereits angekündigt, ohne deren Unterstützung nicht mehr evakuieren zu können. Der Bürochef des französischen Außenministers, Nicolas Roche, gab nun bekannt, ein US-Abzug am 31. August würde das Ende des französischen Einsatzes schon an diesem Donnerstagabend bedeuten. "Also bleiben uns drei Tage", fügte er hinzu.
Die Taliban sind am Flughafen, auch in der Nähe der Start- und Landebahnen, überall präsent. Die deutschen und französischen A400M-Transportflugzeuge fliegen Kabul in steilem Sinkflug an, um möglichen Angriffen auszuweichen. Die Maschinen blieben dabei möglichst "lange in einer sicheren Höhe", teilte die Bundeswehr im Onlinedienst Twitter mit. Auf dem Rollfeld würden sich die Flugzeuge maximal eine halbe Stunde aufhalten, um be- und entladen zu werden, erklärte ein französischer Pilot.
Taliban "sitzen auf dem Zaun des Flughafens mit Bazookas in der Hand"
Die Taliban "sitzen quasi auf dem Zaun des Flughafens mit Bazookas in der Hand, da kann man nicht einfach den Flugverkehr weiter aufrechterhalten", gab auch der außenpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Omid Nouripour, zu bedenken. Die "richtige Zeit" für Evakuierungen sei verpasst worden, kritisierte er im Sender Welt.
Alle Hoffnungen der Regierungen in Berlin und anderen Hauptstädten richten sich nun darauf, dass mit den Taliban eine Fortsetzung der Evakuierungen ausgehandelt werden kann. Maas zufolge wird mit Partnern wie den USA und Großbritannien überlegt, wie nach einem Abzug des Militärs ein ziviler Weiterbetrieb des Flughafens Kabul erreicht werden könnte. Trotz aller Kritik befürwortet auch Nouripour solche Gespräche mit den Taliban, er befürchtet jedoch einen "hohen Preis".
- Nachrichtenagentur AFP