Nachfolge für Boris Johnson Außenministerin Truss kündigt Kandidatur an
Nach dem Rücktritt des Premiers müssen die britischen Konservativen einen Nachfolger wählen. Kandidaten finden sich zu Genüge – doch das Rennen könnte die Partei zerreißen.
Um die Nachfolge des britischen Premierministers Boris Johnson bewerben sich bisher zehn bekannte konservative Politiker. Am Sonntag kündigten Handelsministerin Penny Mordaunt und Außenministerin Liz Truss ihre Kandidatur an – als viertes und fünftes Mitglied der amtierenden Regierung. Eine neue Parteichefin oder ein neuer Parteichef könnte am 5. September feststehen, wie die Zeitung "Telegraph" berichtete. M
Mordaunt betonte: "Unsere Führung muss sich ändern. Es muss weniger um die Person an der Spitze gehen und viel mehr um das Schiff." Die 49-Jährige hat sich als vehemente Brexit-Unterstützerin einen Namen gemacht und ist bei der Parteibasis sehr beliebt. Außer ihr bewerben sich aus dem aktuellen Kabinett auch Außenministerin Truss, Finanzminister Nadhim Zahawi, Verkehrsminister Grant Shapps und Chefjustiziarin Suella Braverman.
Premier Johnson hatte am Donnerstag nach massivem Druck aus seiner Partei seinen Rückzug angekündigt. Er will aber im Amt bleiben, bis ein Nachfolger gekürt ist. Die Opposition fordert hingegen Johnsons sofortiges Aus und eine Neuwahl. Auch in seiner Konservativen Partei gibt es entsprechende Stimmen. Die Tories haben im Parlament eine deutliche Mehrheit. Wer Parteichef wird, wird auch Premierminister.
Die Schlammschlacht beginnt
Die Nerven in der Konservativen Partei liegen blank, der Kampf ums Erbe von Boris Johnson dürfte zu einer Schlammschlacht werden. "Die nächsten Wochen werden furchtbar", zitierte die Zeitung "Times" ein anonymes Kabinettsmitglied. Die Partei werde letztlich zerrissen werden. Kaum hatte der britische Premierminister seinen Rückzug angekündigt, brachen die Gräben auf. Bereits am Abend fielen potenzielle Kandidaten und ihre Unterstützer in einer Mischung aus Untergangsstimmung und Bürgerkrieg auf einer Party übereinander her.
Da gibt es Vorwürfe über außereheliche Affären, Verletzungen der Corona-Regeln und dubiose Wirtschaftsverbindungen, wie die "Times" schrieb. Abgeordnete würden daran erinnert, welche Leichen die anderen Bewerber im Keller haben. Die Partei will den Auswahlprozess bis zur Sommerpause des Parlaments am 21. Juli durchpeitschen. "Das bedeutet, dass Westminster kommende Woche einen täglichen Mix aus Verrat, Pakten und Brutalität erleben wird", kommentierte das Blatt.
Bis Dienstag ist noch Zeit für Bewerbungen, wie die Zeitung "Telegraph" berichtete. Das zuständige Parteikomittee wolle bei seiner Sitzung an diesem Montag den Auswahlprozess reformieren. Demnach müssten Interessenten die Rückendeckung von 20 Abgeordneten haben und nicht mehr von acht. Damit solle die Zahl auf die "ernsthaften" Kandidaten reduziert werden. Bis zu 15 Bewerber werden befürchtet.
Das sind weitere Kandidaten
Weitere Kandidaten sind Ex-Gesundheitsminister Sajid Javid und die ehemalige Staatssekretärin Kimi Badenoch, die vorige Woche aus Protest gegen Johnsons Führungsstil zurückgetreten waren. Ihnen wird aber ebenso wie Sunak und den kandidierenden Ministern vorgeworfen, viel zu lange zu Johnsons zahlreichen Skandalen geschwiegen zu haben. Bewerber Jeremy Hunt, einst Außen- und Gesundheitsminister, betonte auch deshalb, er habe nie in Johnsons Kabinett gedient. Das gilt auch für den Chef des Auswärtigen Ausschusses im Parlament, Tom Tugend hat, einen ausgewiesenen Johnson-Kritiker.
Javid und Hunt kündigten in Interviews mit dem "Sunday Telegraph" an, im Fall einer erfolgreichen Kandidatur die Körperschaftssteuer von 25 auf 15 Prozent zu senken. Auch Zahawi sprach sich für Steuersenkungen aus. Das Trio zählt aber nicht zum engeren Favoritenkreis. Hunt hatte sich bereits 2019 um den Parteivorsitz beworben, konnte sich aber nicht gegen Johnson durchsetzen.
Zuallererst hatten sich der einflussreiche Abgeordnete Tom Tugendhat sowie Generalstaatsanwältin und Brexit-Befürworterin Suella Braverman aus der Deckung gewagt. Am Freitag verkündete dann auch der aus Protest gegen Johnson zurückgetretene Finanzminister Rishi Sunak seine Kandidatur. Mehr dazu lesen Sie hier. Die ebenfalls gerade zurückgetretene Gleichstellungsministerin Kemi Badenoch und Verkehrsminister Grant Shapps machten ihre Ambitionen am Samstag öffentlich. Verteidigungsminister Wallace verkündete derweil seinen Verzicht auf eine Kandidatur. Beobachter hatten den 52-Jährigen zu den aussichtsreichsten Kandidaten gezählt.
Ein Riss geht durch die Partei
Es wird damit gerechnet, dass sich noch weitere Regierungsmitglieder um Johnsons Nachfolge bewerben. Sunak gilt derzeit als einer der Favoriten auf den Tory-Chefposten. In einer aktuellen Umfrage unter den Tory-Mitgliedern landete Sunak knapp vor Truss auf dem ersten Platz.
An dem ehemaligen Finanzminister, der die Unterstützung ranghoher Tories genießt, ist beispielhaft zu sehen, wie zerrissen die Partei ist: Die einen loben den 42-Jährigen für seine Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung in den Himmel. Die anderen schmähen den Politiker, der der erste Premier mit asiatischen Wurzeln wäre, als Sozialisten. Obwohl er sich lange dagegen wehrte, hatte Sunak im Kampf gegen explodierende Kosten eine zusätzliche Steuer auf Gewinne von Energiekonzernen erlassen.
Nach der Wahl – vor der Wahl?
Liberale Analysten lassen ohnehin kein gutes Haar am Bewerberfeld. "Die gute Nachricht: Johnson ist auf dem Weg nach draußen. Die schlechte: Schaut Euch an, wer auf dem Weg rein ist", kommentierte Marina Hyde in der Zeitung "Guardian". Zum Beispiel Ex-Außenminister Jeremy Hunt. "Jeremy Hu: Entschuldigung, ich war schon gelangweilt, bevor ich seinen Namen fertig geschrieben habe", so die Kolumnistin.
Geht es nach der konservativen Basis, haben Mordaunt und Außenministerin Liz Truss ebenso wie Sunak gute Aussichten. Die Vorauswahl treffen die 358 Abgeordneten der Parlamentsfraktion, erst wenn noch zwei Bewerber übrig sind, entscheiden die Parteimitglieder. Wie viele das sind, ist unbekannt: Schätzungen reichen von 100.000 bis 200.000.
Wenn das Rennen dann entschieden ist – laut "Telegraph" soll das bis zum 5. September der Fall sein –, dürfte die Schlammschlacht noch lange nicht vorbei sein. Viele Stimmen fordern bereits, dass die Siegerin oder der Sieger eine Neuwahl ausruft. Ansonsten hätten Gegner leichtes Spiel, dem neuen Bewohner von Downing Street Nummer 10 die Legitimität abzusprechen.
Scheidender Premier ohne Reue
Das Problem: In Umfragen liegen die Tories deutlich hinter der oppositionellen Labour-Partei. Das spiegelt sich in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im "Times"-Auftrag wider: Hätte die Öffentlichkeit die Wahl, hießen die aussichtsreichsten Bewerber mit großem Vorsprung "keiner von ihnen" und "weiß ich nicht".
Und dann ist da noch Boris Johnson: Der Schatten des Noch-Premiers dürfte noch lange über seiner Partei schweben. Zumal Johnson wohl keinesfalls im Stillen abtreten wird. Er hatte am Donnerstag nach einer beispiellosen parteiinternen Revolte wegen einer Reihe von Skandalen seinen Rücktritt als Parteichef angekündigt. Damit ist auch sein Aus als Regierungschef besiegelt. Er kündigte aber an, noch bis zur Wahl eines Nachfolgers im Amt zu bleiben, was bis zum Herbst dauern könnte.
Schon bei seiner Rückzugsankündigung begann der 58-Jährige, eine Dolchstoßlegende zu stricken. Die Partei habe die "exzentrische" Entscheidung getroffen, dass eine neue Führung nötig sei, trotz seiner Erfolge und des "überwältigenden Mandats", sagte Johnson da. Von Einsicht keine Spur. Das Wort "Rücktritt" nahm der Populist nicht in den Mund.
Tories als Wackeldackel?
Johnson hat noch immer Unterstützer. Die Partei werde den Tag bereuen, an dem sie den Premier absägte, schimpfte der Abgeordnete Christopher Chope. Die Atmosphäre ist aufgeheizt. Kulturministerin Nadine Dorries, Johnson treu ergeben, monierte, die Nachfolgesuche habe "die Höllenhunde entfesselt". Die neue Staatssekretärin für Bildung, Andrea Jenkyns, zeigte Regierungsgegnern den Mittelfinger. Anhänger verwiesen auf Johnsons Vorbild Winston Churchill, der 1951 nach einigen Jahren Pause noch einmal Premierminister wurde. "Schreibt ihn nicht ab", werben die Unterstützer.
Zwar beeilen sich alle bisherigen Kandidaten, sich von Johnson loszusagen. Notwendig sei ein "Neustart". So kündigte etwa Kemi Badenoch an, sie wolle den Menschen wieder die Wahrheit sagen. Aber auch Badenoch war Mitglied in der Regierung. Sie schwieg über Johnsons Skandale wie die "Partygate"-Affäre ebenso wie Sunak und Kabinettsmitglieder, die sich noch bewerben dürften. Als "nickende Hunde" verhöhnte Oppositionschef Keir Starmer die Führungsriege. Die Tories als Wackeldackel? Auch dieses Bild muss die Partei rasch loswerden.
- Nachrichtenagenturen dpa und AFP