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Putin greift nicht aus Stärke an, sondern aus Schwäche


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Putin greift nicht aus Stärke an, sondern aus Schwäche

MeinungVon Bastian Matteo Scianna

Aktualisiert am 28.02.2022Lesedauer: 4 Min.
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Ukraine-Krieg: Russlands Präsident Wladimir Putin versetzt die Streitkräfte des Landes in Alarmbereitschaft. Darunter sind auch Atomwaffen. (Quelle: t-online)

Wladimir Putin attackiert die Ukraine, der Westen ist schockiert. Diese Überraschung hätte sich Deutschland ersparen können. Denn gewaltsame Interventionen Russlands haben Tradition.

Der russische Krieg gegen die Ukraine begann nicht am 24. Februar 2022. Er begann auch nicht mit der Invasion der Krim 2014 oder dem Konflikt mit Georgien 2008. Leider haben russische Interventionen in Ostmitteleuropa eine lange Tradition. Der Westen nahm dabei oftmals eine Zuschauerrolle ein – doch heute müssen rote Linien endlich klarer gezogen und verteidigt werden, sonst gibt es bald nichts mehr, was der Westen seiner Realitätsverweigerung opfern könnte.

Nach dem Zusammenbruch des zaristischen Reiches 1917 strebte die neue kommunistische Führung nach einem Gürtel an Pufferstaaten als Verteidigungswall gegen den "westlichen Imperialismus". Verschiedene Grenzkriege mit Finnland und Polen sowie die Auslöschung ganzer Staaten im Zuge des Molotow-Ribbentrop-Paktes zeigten den Willen, eigene Interessen auch mit militärischer Gewalt durchzusetzen.

Bastian Matteo Scianna ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Militärgeschichte der Universität Potsdam. Er ist Mitautor der Studie "Blutige Enthaltung. Deutschlands Rolle im Syrienkonflikt".

Dabei gab es in dieser Zeit durchaus berechtigte Ängste vor fremden Invasoren. So waren im Russischen Bürgerkrieg auch ausländische Streitkräfte involviert und der deutsche Überfall am 22. Juni 1941 bleibt bis heute ein nationales Trauma.

Die Sowjetisierung Ostmitteleuropas im Zuge des Zweiten Weltkrieges veränderte die politische Geografie und die Gesellschaften dieser Region nachhaltig. Grenzen wurden neu gezogen, missliebige Personen verfolgt, vertrieben, inhaftiert oder ermordet. Viele Aspekte der Interventionspolitik blieben gleich, aber diesmal drohte dem Kreml keine andere Gefahr als der Freiheitswille unterdrückter Völker. 1948 putschten durch Moskau unterstützte Kommunisten die Regierung in Prag aus dem Amt und ebneten den Weg in die Diktatur.

Jelzins Krieg in Tschetschenien war verbrecherisch

1953 half die Rote Armee bei der Niederschlagung des Aufstandes in der DDR. 1956 zermalmten dann sowjetische Panzer die Revolution der Ungarn und halfen polnischen Kommunisten, eine Revolte zu unterdrücken. Dasselbe Schicksal ereilte die Freiheitsbestrebungen in Prag 1968 und in Polen 1980/81. In keinem dieser Fälle stand der rebellierenden Bevölkerung eine geschlossene nationale Armee, wie jetzt in der Ukraine, zur Seite.

Auch nach dem Ende des Kalten Krieges intervenierte der Kreml wiederholt im "nahen Ausland", also denjenigen Staaten, die nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht mehr zur Russischen Föderation gehörten, aber weiterhin als eigener Hinterhof gesehen wurden, oder überzog "aufständische" Provinzen im eigenen Land mit Krieg und Schrecken.

Dabei wird häufig übersehen, dass Russland bereits unter Präsident Boris Jelzin einen verbrecherischen Krieg in Tschetschenien führte – während die Nato noch Rücksicht auf Russland nahm, die Osterweiterung weiter verschob und um eine respektvolle Partnerschaft bemüht war.

Die sowjetischen beziehungsweise die russischen Interventionen zielten auf eine Erhöhung der Sicherheit durch die Erweiterung des eigenen Territoriums beziehungsweise die Errichtung von Satelliten- oder Pufferstaaten. Damit sollten westlicher Einfluss und fremde Truppen ferngehalten werden. Ein Ausscheren aus dieser Einflusszone wurde gewaltsam verhindert. Der Einsatz militärischer Mittel war somit immer auch eine politische Botschaft im eigenen Machtbereich.

Putin fürchtet sich

Ähnlich wie die "Bestrafung" der Tschechoslowakei 1968 im Verbund mit anderen Warschauer-Pakt-Staaten stattfand, sehen wir heute Belarus als Aufmarschgebiet für Putins Angriffskrieg. Darüber hinaus sollten Interventionen die eigene autokratische Weltsicht verbreiten. Genau wie das Zarenreich und die Sowjetunion fürchtet sich auch Putin vor dem Westen: Gefährlich ist dieser jedoch nicht aufgrund angeblicher Eroberungspläne, sondern wegen des auf Freiheit und Demokratie beruhenden Gesellschaftsmodells.

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Um dieser Politik entschieden entgegenzutreten, muss der Westen entschlossener handeln. Man darf nicht hoffen, dass sich die Putinsche Außenpolitik unserem eigenen, postheroischen Wertekanon anpassen wird. Ein Europa, das militärisch weder handlungsfähig noch mental willens zur Abschreckung ist, hat im geopolitischen Machtspiel Putins schon vor dem Anpfiff verloren.

Seit Jahren wird dies von Experten bemängelt, die sich als Dank dem Vorwurf des Militarismus ausgesetzt sahen. Seit Jahren leiden die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr darunter, die zum Spott freigegeben wurden. Seit Jahren brechen Spitzenpolitiker aller Parteien ihre Versprechen und betreiben Augenwischerei.

Da es nicht opportun oder populär schien, haben sie versäumt, der deutschen Bevölkerung zu erklären, dass militärische Mittel leider manchmal nötig sind. Die deutsche Politik ist bei hohlen Versprechungen und vorauseilender Kapitulation zum unangefochtenen Meister avanciert. Dies schwächt nicht nur die deutsche Rolle, sondern den Westen als Ganzes.

Ist die Ukraine nur der Anfang?

Schaut man auf die Muster der russischen Interventionen der letzten 100 Jahre, darf man nicht denken, dass die Ukraine das letzte Kapitel sein wird. Was, wenn Putin ein neutrales und demilitarisiertes Baltikum, Polen oder Rumänien fordert oder die EU-Mitglieder Finnland und Schweden, die nicht der Nato angehören, weiterhin bedroht? Was, wenn Putin nach Georgien, Moldau oder Armenien greift? Und was werden andere autoritäre Regime daraus für ihre territorialen Ansprüche ableiten?

Unsere Sicherheit und Freiheit werden momentan in der Ukraine verteidigt. Doch darüber hinaus geht es um – ja, historische – Veränderungen in Ostmitteleuropa und die Resilienz westlicher Demokratien gegen autoritäre Bedrohungen in der ganzen Welt. Die nun von der Bundesregierung angekündigten Waffenlieferungen sind ein später, aber wichtiger Schritt.

Diese Lieferungen und die Regierungsklärung des Bundeskanzlers sind ein eindeutiges Zeichen, dass in Berlin ein Umdenken stattfindet. Das Sondervermögen zur Erreichung der Nato-Ziele und der deutliche Wille, auch die mentale Abwehrbereitschaft zu stärken, deuten auf einen Paradigmenwechsel hin.

Die Gefahr liegt nun in einer weiteren Eskalation durch einen zunehmend frustrierten Putin, dessen autokratische Herrschsucht und kaltblütiger Wille zum Krieg in eine Sackgasse oder gar Regimekrise geführt haben könnten. Hierauf gilt es, sich vorzubereiten. Gleichzeitig bleibt zu hoffen, dass die Zeit russischer Militärintervention bald endgültig der Vergangenheit angehören wird – auch zum Wohle des friedliebenden Teils der russischen Bevölkerung.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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