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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Rücktritt des Schwiegersohns Erdoğan versinkt im Lira-Sumpf
Erdoğans Schwiegersohn Berat Albayrak tritt überraschend als Finanzminister zurück. Die Not der Türkei in der Lira-Krise ist so groß, dass der Präsident
Die türkische Lira ist in diesem Jahr im Sturzflug. Die Finanz- und Wirtschaftskrise bestimmt den Alltag der Türkinnen und Türken.
Die Folgen: Durch den Währungsverfall ist der Import von ausländischen Produkten teurer geworden. Die Preise für viele alltägliche Dinge haben sich nahezu verdoppelt, weite Teile der Bevölkerung müssen sparen, können sich bestimmte Produkte nicht mehr leisten. Viele Menschen fürchten um ihre Existenz, ihre Geschäfte leiden. Sie haben Kredite in Dollar oder Euro aufgenommen. An Urlaub im Ausland können nur wenige momentan denken – auch das ist zu teuer.
All diese Entwicklungen haben sich in den letzten zwei Jahren stetig verschlimmert, die Inflation wurde immer größer. Trotzdem wurde die Krise von Präsident Recep Tayyip Erdoğan meistens totgeschwiegen. Medien berichteten kaum darüber, auch aufgrund der staatlichen Kontrolle.
Stattdessen versuchte er der Krise vor allem mit Ablenkungsmanövern zu begegnen. Je tiefer die Lira fiel, desto mehr Konflikte suchte sich der türkische Präsident mit dem Ausland. Der Verfall der eigenen Währung sei ein Komplott fremder Mächte, so Erdoğan.
Nun ist die Wirkung dieser Ablenkungsmanöver erschöpft, die Not im Land mittlerweile zu groß. Deshalb muss die türkische Regierung mit einschneidenden Maßnahmen reagieren. Sie sind auch ein Eingeständnis des Versagens der türkischen Regierung in der Lira-Politik der letzten Jahre. Das Vertrauen in Erdoğans wirtschaftliche Kompetenz bröckelt immer mehr – und damit auch seine Macht.
Mysteriöser Rückzug von Erdoğans Schwiegersohn
Die Dimension des aktuellen Problems wurde in der vergangenen Woche deutlich, plötzlich überschlugen sich die Ereignisse.
Die Lira fiel zeitweise auf einen Kurs von unter 0,10 Euro – ein neuer Negativrekord. Im Umkehrschluss bedeutet das: Für einen Euro bekam man 10 Lira. Zunächst wurde Notenbankchef Murat Uysal per Dekret von Erdoğan gefeuert. Danach warf Finanzminister Berat Albayrak, der Schwiegersohn Erdoğans, das Handtuch.
Der Rücktritt von Albayrak hat viele Menschen in der Türkei überrascht. Die Hintergründe sind völlig unklar, die Art der Bekanntmachung sehr mysteriös. Am Sonntag veröffentlichte er sein Rücktrittsschreiben, begründete seinen Abgang mit gesundheitlichen Problemen. Einen Tag später ist sein Twitter-Account gelöscht, laut dem Finanzdienst Bloomberg sei der ehemalige Minister auch telefonisch nicht zu erreichen.
Albayrak ist nicht nur mit einer von Erdoğans Töchtern verheiratet, er galt in der türkischen Bevölkerung auch als eine Art Ziehsohn des Präsidenten. Es ist völlig unklar, ob wirklich gesundheitliche Probleme der Grund für seinen Rückzug waren oder ob es Streit zwischen ihm und dem Präsidenten gab. Eine andere Deutungsmöglichkeit: Erdoğan wollte ihn aus der Schusslinie bringen. Die türkische Regierung bestätigte zwar den Rückzug Albayraks, schweigt aber zu den Gründen.
Experten äußern sich skeptisch. Commerzbank-Analyst Ulrich Leuchtmann meint: "Gerüchte besagen, er war mit der Wahl des Uysal-Nachfolgers Ağbal nicht einverstanden." Naci Ağbal ist der neue Chef der türkischen Notenbank. Der Rücktritt trägt laut Ökonom Win Thin vom Bankhaus Brown Brothers Harriman dazu bei, dass sich die politischen Risiken in der Türkei über das Wochenende erhöht haben. "Es wurden zwar gesundheitliche Gründe angeführt, doch offensichtlich steckt mehr dahinter."
Erdoğan spricht von "Krieg"
Von den Finanzmärkten wurde die Neuausrichtung der Geld- und Finanzpolitik positiv aufgefasst, der Wert der Lira stieg wieder – auf mehr als 0,10 Euro. Für einen Euro bekam man also wieder weniger Lira. Der neue Notenbankchef Ağbal kündigte am Montag an, er werde "entschlossen" alle Mittel einsetzen, um das Hauptziel Preisstabilität zu erreichen. Manche Experten setzen darauf, dass Ağbal die Zinsen kräftig anheben wird. Andere geben zu bedenken, dass er ein treuer Verbündeter Erdoğans sei, der wiederum ein erklärter Zinsgegner ist. "Es liegt der Verdacht nahe, dass der türkische Präsident nun einen noch direkteren Zugriff auf die Geldpolitik haben möchte. Der Lira kann das nur noch mehr schaden", warnte Analyst Leuchtmann.
Die Finanzpolitik Erdoğans hat sein Land in diese Lage gebracht. Er forderte vehement eine Niedrigzinspolitik, dadurch stieg die Inflation. Den rasanten Aufschwung der Türkei finanzierte die türkische Regierung in großen Teilen auf Pump, die teuren Kredite in Fremdwährungen rächen sich nun. Angesichts der Not im Land gehen Experten davon aus, dass es auch bei Erdoğan einen Sinneswandel gegeben haben könnte und, dass dem neuen Notenbankchef eine orthodoxe Geldpolitik erlaubt wird.
Die eigene Verantwortung sieht Erdoğan natürlich nicht. Am vergangenen Samstag schob er die Schuld am Verfall der Lira und dem wirtschaftlichen Leid der Türkei einmal mehr anderen zu. Sein Land führe einen Krieg gegen eine unheilige Dreieinigkeit aus Wechselkursen, Inflation und Zinsen, berichtete die Nachrichtenagentur Bloomberg.
Inflationsrate sorgt für Druck auf Lira
Die Verantwortlichen für dieses "Teufelsdreieck" seien laut Erdoğan klar: "Unsere Antwort auf diejenigen, die daran arbeiten, unsere Volkswirtschaft zu belagern, ist einer neuer Krieg ökonomischer Befreiung“, fügte Erdoğan hinzu. Schuld haben alle, nur nicht er – diese Töne ist das Ausland von ihm gewöhnt.
Ex-Notenbankchef Uysal wird dagegen für den Niedergang der Lira mitverantwortlich gemacht, die dieses Jahr mehr als 27 Prozent abgewertet wurde. Keine Währung eines Schwellenlandes ist im Corona-Jahr 2020 schlimmer unter die Räder gekommen. Den vorigen Notenbankchef hatte Erdoğan vor einem Jahr auf den Posten gesetzt, um mehr Einfluss auf die eigentlich unabhängige Notenbank ausüben zu können. Zuletzt hatte die Zentralbank den Schlüsselzins bei 10,25 Prozent belassen. Analysten von Goldman Sachs und der TD Bank erwarten nun eine Erhöhung um mindestens sechs Prozentpunkte. Die nächste reguläre Zinssitzung der Notenbank steht am 19. November an.
Ağbal steht vor einer schwierigen Aufgabe: Die Inflationsrate hat zweistellige Prozentwerte erreicht und sorgte damit für Druck auf die Lira. Auch die stark geschmolzenen Währungsreserven des Landes haben deren Talfahrt beschleunigt. Laut Commerzbank-Experte Leuchtmann ist es der türkischen Politik und Zentralbank zwar immer wieder mal gelungen, die Wechselkursentwicklung zu stabilisieren. "Doch kann das so lange nicht von Dauer sein, wie das grundlegende Problem nicht angegangen wird: die mangelnde Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit der Geldpolitik."
Angst und Panik sind groß
Dieses Problem kann allein ein fähiger Notenbankchef, der einen engen Draht zu Erdoğan hat, nicht lösen. Der türkische Präsident versuchte im Jahr 2020 immer wieder mit anderen Krisen und Konflikten von der Lirakrise abzulenken. So suchte er sich vor zwei Wochen Streit mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den er islamophob und therapiebedürftig nannte, nachdem ein Lehrer von einem Islamisten in Paris auf offener Straße geköpft wurde. Erneut schickte er auch wieder Nazi-Vorwürfe in Richtung Europäische Union.
Aber damit nicht genug: Die Türkei streitet mit Griechenland um Erdgasvorkommen im Mittelmeer, hat Soldaten in Libyen und Syrien und unterstützt Aserbaidschan im Kampf gegen Armenien in der Region Bergkarabach. Hinzu kommt die Corona-Krise, deren Auswirkungen überall auf der Welt zu spüren sind.
Besonders in diesen unsicheren Zeiten braucht die Lira größtmögliche politische Stabilität. Seine Träume von der Türkei als Regionalmacht müsste Erdoğan durch den Verfall der eigenen Währung eigentlich verschieben. Aber tut er das?
Panik und Angst sind groß. Die türkische Bevölkerung kann nur hoffen, dass sich der Präsident der Ernsthaftigkeit der Lage bewusst wird. Die Zeit der Ablenkungen ist vorbei.
- Eigene Recherche
- Krise in der Türkei: Familienkrach im Hause Erdogan (FAZ)
- Erdoğan: Der türkische Präsident schafft ein Klima für Gewalt (Zeit)
- Lira-Absturz: Erdogan sagt "unheiliger Dreieinigkeit" den Kampf an (Focus)
- Türkei: Erdogans Schwiegersohn tritt als Finanzminister zurück (Welt)
- Mit Material der Nachrichtenagentur Reuters