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Taiwans erfolgreicher Kampf gegen Corona – nur sieben Tote im ganzen Land


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Einflussreicher Berater berichtet
Wie Taiwan das Coronavirus besiegte

Von Maximilian Kalkhof

09.11.2020Lesedauer: 5 Min.
"Die WHO hat viel zu spät reagiert": Rote Laternen hängen beim Neujahrsfest in Taiwan.Vergrößern des Bildes
"Die WHO hat viel zu spät reagiert": Rote Laternen hängen beim Neujahrsfest in Taiwan. (Quelle: imago-images-bilder)

Er ist einer der angesehensten Gesundheitsexperten des Inselstaates: Hier erklärt Chen Chien-jen, wie Taiwan erfolgreich gegen Corona kämpft – und was Deutschland davon lernen kann.

Chen, der ehemalige Vizepräsident Taiwans, ist ein ausgesprochen höflicher Mann. Kaum hat er die Wirksamkeit eines Lockdowns kritisiert, relativiert er seinen Satz auch schon wieder.

Er möchte nämlich nicht, dass seine Aussage als indirekte Kritik am deutschen Krisenmanagement verstanden wird – das vor allem auf einen Lockdown setzt, um die zweite Welle in den Griff zu bekommen. Also fügt er hinzu: "Aber natürlich gibt es von Land zu Land kulturelle Unterschiede. Das Taiwan-Modell eignet sich nicht für alle."

Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie – und besonders seit dem Ausbruch der zweiten Welle in Europa – hat sich gezeigt, dass mehrere asiatische Länder mit der Gesundheitskrise besser fertig werden als westliche Staaten wie die USA, Großbritannien und auch Deutschland. Eines dieser asiatischen Länder ist Taiwan.

Nur sieben Menschen sind am Virus gestorben

Die Insel liegt keine 200 Kilometer von China entfernt, dem Land, in dem das Coronavirus zuerst ausgebrochen ist. Taiwan hat 23 Millionen Einwohner und ist dicht besiedelt. Zudem ist das Land wirtschaftlich eng mit China verbunden.

Doch trotz der schlechten Ausgangsbedingungen ist es Taiwan gelungen, die Pandemie zu besiegen – und das ganz ohne Lockdown. Nach Angaben der Johns-Hopkins-Universität gibt es auf der Insel in absoluten Zahlen nicht einmal 600 Infektionsfälle. Nur sieben Menschen sind demnach an dem Virus gestorben. Die letzte lokale Übertragung meldete Taiwan an Ostern. Seitdem ist das Land frei von Corona.

Auch ist Taiwan ohne Wirtschaftseinbruch durch die Krise gekommen. Im zweiten Quartal schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt um lediglich 0,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In Deutschland hingegen erreichte die Zahl der innerhalb von 24 Stunden gemeldeten Neuinfektionen diese Woche mit mehr als 20 Tausend einen neuen Höchstwert. Nach Angaben der Johns-Hopkins-Universität beläuft sich die kumulierte Zahl der Infektionen inzwischen auf deutlich mehr als 600.000. Und die Wirtschaft brach im zweiten Quartal im Vergleich zum Vorjahr um 9,7 Prozent ein.

Grau melierter Strubbelkopf und Lächeln eines Buddhas

Damit ist das "Taiwan-Modell" in den Fokus gerückt. Und mit ihm Chen Chien-jen. Denn Chen ist nicht nur einer der mächtigsten Politiker des Landes. Er ist auch einer der bekanntesten Gesundheitsexperten. Erst im Mai legte er das Amt des Stellvertreters von Präsidentin Tsai Ing-wen nieder. Hinter den Kulissen spielt er bei der Pandemie-Bekämpfung aber nach wie vor eine wichtige Rolle. "Ich bin so etwas wie ein leitender Berater von Präsidentin Tsai", sagt er im Videointerview mit t-online.

Chen sitzt an einem Novembersonntag in seiner Wohnung in Taipeh. Der 69-Jährige trägt das weiße Hemd offen und linst ab und zu auf Notizblätter, die er neben den Computer gelegt hat. Im Hintergrund türmen sich Bücher.

Chen ist ein ungewöhnlicher Politiker. Nichts an ihm erinnert an einen Machtmenschen. Er hat einen grau melierten Strubbelkopf und das Lächeln eines Buddhas. In den 80er-Jahren studierte er Epidemiologie an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore im US-Bundesstaat Maryland – bevor er in Taiwan eine wissenschaftliche Karriere einschlug. Damals wusste er noch nicht, dass die taiwanische Politik Gesundheitsexperten wie ihn brauchen würde.

Alle Kontakte von Infizierten müssen zwei Wochen in Quarantäne

2003, als in dem Inselstaat die SARS-Pandemie wütete, machte der damalige Präsident Chen Shui-bian den Epidemiologen zum Gesundheitsminister – eine Rolle, für die ihm in Taiwan noch heute Respekt gezollt wird. Von 2015 bis 2020 war er Vizepräsident. Seitdem forscht er an der Academia Sinica, einer staatlichen Akademie für Grundlagenforschung in Taipeh.

Eine der ersten Maßnahmen, die Taiwan gegen das Coronavirus einleitete, war etwas, das in europäischen Hauptstädten schnell für Naserümpfen sorgt: Das Land schloss seine Grenzen. Nur wenige Tage, nachdem im Januar der erste Infektionsfall aufgetreten war, suspendierte das Land den Flugverkehr mit China. Schon im Dezember hatten die Behörden damit angefangen, Flugpassagiere aus Wuhan auf Symptome zu untersuchen – nachdem einer der obersten Seuchenbekämpfer des Landes in Internet Hinweise auf Fälle von Lungenentzündungen in der chinesischen Stadt entdeckt hatte.

Den größeren Stolz verspürt Chen allerdings über Taiwans Quarantänemaßnahmen. Nicht nur schickte das Land alle Menschen, die mit Infizierten in Kontakt gewesen waren, in eine zweiwöchige Isolation. Auch wer aus dem Ausland kommt, muss sich in eine 14-tägige Quarantäne begeben – das gilt bis heute, ungeachtet des Herkunftslands. Insgesamt, so Chen, haben mehr als 350.000 Menschen diese Maßnahmen durchlaufen. In der Quarantäne überwachen die Behörden den Standort der betroffenen Personen per Handy-Funksignal.

Das vorbildliche Verhalten der Taiwaner

Wer seinen Standort verlässt, bekommt erst eine Warn-SMS – und dann, bei Missachtung, Behördenbesuch. Man darf sich diese Maßnahmen aber nicht drakonisch vorstellen: Wer kein Handy besitzt, bekommt ein Mobiltelefon von den Behörden gestellt. Und wer in der Quarantäne Hilfe braucht, dem liefern sie das Essen und die Dinge des Alltags in die Isolation. Doch der zivilisierte Charakter der Maßnahmen ist noch nicht einmal Chens größter Stolz.

Richtig stolz wird er erst, wenn er über das Verhalten der Taiwaner spricht. Denn wer den Epidemiologen fragt, wie viele Menschen die Quarantäne gebrochen haben, bekommt als Antwort: nur rund 1.100. Das ist nicht einmal 0,5 Prozent. Den Grund für den Regelkonformismus sieht Chen in dem stark ausgeprägten Gemeinsinn der Taiwaner. "Bei uns herrscht ein Konsens", sagt er, "dass wir die Freiheit von 350.000 Menschen für zwei Wochen einschränken mussten, um den gesellschaftlichen Normalbetrieb für 23 Millionen Menschen aufrechtzuerhalten." Genau das ist es, was Chen meint, wenn er von den kulturellen Besonderheiten des "Taiwan-Modells" spricht. Denn auf der Insel gilt: Corona-Proteste? Absolute Fehlanzeige.

Als Gesundheitsexperte hat sich Chen während der Pandemie in Taiwan viele Freunde gemacht. Aber andernorts hat er sich Gegner gemacht. Der prominenteste ist wohl die WHO.

"Die WHO hat viel zu spät reagiert"

Nach eigenen Angaben informierte die taiwanische Seuchenbehörde bereits am 31. Dezember sowohl die WHO als auch die chinesische Seuchenbehörde in einer E-Mail über Fälle von "atypischen Lungenentzündungen" in Wuhan. Sie wies, so die Behörde, darauf hin, dass die dortigen Patienten isoliert worden seien – was als Indiz dafür gelten könne, dass sich die Lungenentzündung von Mensch zu Mensch übertrage. Taiwan ist – wegen des Drucks aus China – kein Mitglied der WHO. Die Volksrepublik betrachtet die Insel als Teil ihres Territoriums und isoliert sie auf internationaler Bühne. De facto ist Taiwan aber ein unabhängiger Staat.

Die WHO, die die Mensch-zu-Mensch-Übertragbarkeit des Virus erst am 24. Januar bestätigte, bestreitet die taiwanischen Behauptungen. Sie bestätigt zwar die E-Mail vom 31. Dezember, behauptet aber, in ihr sei nirgendwo vor der Übertragbarkeit des Virus gewarnt worden. "Die WHO hat viel zu spät reagiert", findet Chen Chien-jen. Dadurch, dass sie den internationalen Gesundheitsnotstand erst am 30. Januar ausgerufen habe, habe die Welt einen Monat verloren. In der Krise, so Chen, sei die WHO ihren wichtigsten Aufgaben nicht gerecht geworden: der Professionalität und der politischen Neutralität. Mit dieser Kritik hat sich Chen nicht nur bei der WHO unbeliebt gemacht. Auch die chinesische Parteipresse hat ihn ins Visier genommen. Die Nachrichtenagentur Xinhua, ein Sprachrohr der Kommunistischen Partei (KP) Chinas, wirft ihm vor, im Gewand des Experten "dummes Zeug zu faseln".

Mittlerweile verfolgt Chen, wie sich der Stand der internationalen Impfstoffforschung entwickelt. Auch in Taiwan gibt es Impfstoffkandidaten. Sie befinden sich aber noch in der ersten Phase der klinischen Tests. Chen setzt deswegen große Hoffnungen auf den Impfstoffkandidaten des deutschen Unternehmens Biontech. Zwar könne es sein, sagt er, dass China als erstes Land einen Impfstoff zulasse. "Aber ein chinesischer Impfstoff würde in Taiwan wohl aus politischen Gründen auf Akzeptanz-Probleme stoßen."

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Chen
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