EU-Gipfel zum Brexit startet Johnson "enttäuscht" über Verhandlungs-Sackgasse
Kurz vor dem EU-Gipfel äußert der britische Premier Unzufriedenheit. Schottlands Regierungschefin wirbt unterdessen um EU-Unterstützung – und wirft der Johnson-Regierung "Ruchlosigkeit" vor.
Der britische Premierminister Boris Johnson hat sich enttäuscht über den fehlenden Fortschritt in den Verhandlungen mit der EU über ein Handelsabkommen nach dem Brexit gezeigt. Eine Entscheidung über einen Abbruch der Gespräche werde er erst nach dem für Donnerstag und Freitag geplanten EU-Gipfel treffen, erklärte Johnsons Sprecher nach einem Telefonat des Premiers mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel am Mittwochabend.
Von der Leyen und Michel betonten nach dem Gespräch, die EU strebe "nicht um jeden Preis" eine Einigung an. Die Bedingungen bei Fischerei, Wettbewerbsregeln und der Überwachung des Abkommens müssten stimmen, erklärte von der Leyen im Onlinedienst Twitter. "Wir haben noch viel Arbeit vor uns." Sie hätten in dem Telefonat mit Johnson "erneut auf Fortschritte am Verhandlungstisch gedrängt", ergänzte Michel auf Twitter.
Johnson habe in dem Gespräch seine "Enttäuschung darüber, dass in den vergangenen zwei Wochen keine weiteren Fortschritte erzielt wurden" ausgedrückt, sagte sein Sprecher. Der konservative Regierungschef habe noch einmal betont, dass ein Deal wünschenswert sei.
Der britische Premier hatte im September gedroht, den Verhandlungstisch zu verlassen, falls es bis 15. Oktober keinen Durchbruch gebe. Am Mittwochabend ließ er nun erklären, er werde zunächst die Ergebnisse des EU-Gipfels abwarten. Er freue sich darauf, von den Ergebnissen zu erfahren und werde nachdenken, bevor er Großbritanniens "nächste Schritte" darlege.
Schottland wirbt um EU-Unterstützung für Unabhängigkeit
Kurz vor dem EU-Gipfel zum Brexit hat die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon unterdessen um Unterstützung der Europäischen Union für die Unabhängigkeit Schottlands geworben. "Die schottische Regierung glaubt, dass die beste Zukunft für unser Land als unabhängige Nation innerhalb der EU liegt", schrieb Sturgeon in einem Gastbeitrag für die Zeitung "Die Welt". Den Brexit bezeichnete sie als "verantwortungslos", "töricht" und "schädlich für die Wirtschaft".
Der Regierung des britischen Premierministers Boris Johnson warf Sturgeon "Ruchlosigkeit" in ihrem Vorgehen bei der Trennung von der EU vor. Da die Regierung in London entschlossen sei, "Konsens und Solidarität den Rücken zu kehren", brauche Schottland "einen alternativen Weg nach vorn".
Die Grundwerte der Europäischen Union wie Achtung der Menschenwürde und Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung und Rechtsstaatlichkeit seien allesamt "Werte, hinter denen wir mit voller Überzeugung stehen", betonte die schottische Regierungschefin.
Umfrage: 58 Prozent der Schotten für Austritt aus Großbritannien
Eine am Mittwoch veröffentlichte Umfrage zeigt, dass die Unterstützung der Schotten für die Unabhängigkeit von Großbritannien auf ein Rekordhoch gestiegen ist. In der Erhebung des Instituts Ipsos Mori sprachen sich 58 Prozent für die Unabhängigkeit aus. Die Befragung ergab auch eine starke Unterstützung für Sturgeon und ihre Schottische Nationalpartei (SNP). Für die Umfrage waren Anfang Oktober 1.045 Schotten ab 16 Jahren befragt worden.
Sollte Sturgeons Partei bei der schottischen Parlamentswahl im kommenden Jahr die Mehrheit erhalten, erhöhe das auch die Wahrscheinlichkeit eines neuen Unabhängigkeitsreferendums, sagte Institutsdirektorin Emily Gray. Premier Johnson hatte allerdings wiederholt ausgeschlossen, die Befugnisse für die Organisation eines Referendums auf die schottische Regionalregierung zu übertragen.
Bei der jüngsten Abstimmung im Jahr 2014 hatten 55 Prozent der Schotten für einen Verbleib in Großbritannien gestimmt. Die SNP argumentiert jedoch, dass angesichts des Brexits eine neue Abstimmung nötig sei. Bei bei dem britischen Referendum über den EU-Austritt von 2016 hatte sich eine Mehrheit der Schotten für den Verbleib in der Europäischen Union ausgesprochen.
EU-Beratungen zum Thema Brexit
Großbritannien war zum 1. Februar aus der EU ausgetreten. Bis Ende des Jahres bleibt es aber noch im EU-Binnenmarkt und der Zollunion. Diese Übergangsphase wollten beide Seiten eigentlich nutzen, um ein Handelsabkommen auszuhandeln. Doch die Gespräche kommen seit Monaten kaum voran.
Die EU-Staats- und Regierungschefs beraten bei ihrem Gipfel am Donnerstag und Freitag darüber, wie lange eine Fortsetzung der Verhandlungen noch sinnvoll ist. In EU-Kreisen heißt es aber schon seit Wochen, es werde nicht die EU sein, welche die Verhandlungen abbricht. Damit soll vermieden werden, dass London die EU als Schuldigen für ein Scheitern hinstellen kann.
- Nachrichtenagenturen dpa, afp