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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Zweite Infektionswelle in Ungarn Vorbild Trump? Orban beschwört die Corona-Katastrophe
Ungarn leidet unter der zweiten Corona-Welle. Das Land verzeichnet Rekordwerte bei den Neuinfektionen – trotzdem findet ein Fußball-Spektakel statt. Für Viktor Orban steht der Schuldige für die Krise ohnehin fest.
Die Corona-Krise legt an diesem Donnerstag in Budapest eine Pause ein. In der ungarischen Hauptstadt herrscht der Ausnahmezustand – nicht wegen des Virus, sondern der Uefa-Supercup zwischen dem FC Bayern München und dem FC Sevilla wird am Abend ausgetragen. Die Polizei trifft Sicherheitsvorkehrungen, ungarische Fernsehsender zeigen Bilder von großer Präsenz der Sicherheitskräfte am Flughafen und an Straßen. Fans aus München und Sevilla haben jeweils 3.000 Tickets bekommen, außerdem werden 14.000 Ungarn im Stadion erwartet. Aus Spanien sollen allerdings nur 500 Fans kommen.
Aber die Pandemie kennt keine Pause, das Virus keinen Supercup. Ein derartiges Spektakel mit Tausenden Menschen inmitten der Corona-Pandemie kann sich Ungarn eigentlich nicht leisten. Seit Anfang September stiegen die Infektionszahlen explosionsartig an, die zweite Welle hat das Land früher als erwartet erreicht. Die ungarische Regierung verschärfte zwar die Maßnahmen, aber Ministerpräsident Viktor Orban nennt in der Öffentlichkeit vor allem einen Grund für die Zuspitzung der Krise: das Ausland.
Dabei ignoriert er die Einschätzung der Wissenschaftler im eigenen Land, ähnlich wie US-Präsident Donald Trump das zu Beginn der Pandemie in den USA getan hat. Ein Fehler, der am Ende teuer für Ungarn werden könnte.
Zahl der Neuinfektionen steigt rasant an
Die Zahl der akuten Infektionen ist in Ungarn, laut der Daten der John Hopkins University auf einem höheren Stand als im Frühjahr – das Land verzeichnete bislang über 21.000 Corona-Infektionen, knapp 16.000 davon sind noch akut. Seit Beginn der Pandemie im März starben in dem Zehn-Millionen-Einwohner-Land 683 Menschen mit dem Coronavirus (Stand: 24. September, 14 Uhr).
Das klingt auf den ersten Blick nicht viel, aber besonders die Zahl der Neuinfektionen im September ist erschreckend.
In Ungarn waren am Sonntag erstmals mehr als 1.000 Menschen innerhalb von 24 Stunden positiv auf das Coronavirus getestet worden. Der Krisenstab der ungarischen Regierung gab den Rekordwert mit 1.070 an. Sechs Menschen starben in den letzten 24 Stunden an den Folgen der Lungenkrankheit Covid-19. Am Mittwoch waren es erneut 951 Infizierte. Zur Einordnung: In Deutschland waren es 1.769, aber die Bevölkerung ist auch acht mal so groß. Pro 100.000 Einwohner sind es in Ungarn aktuell 61 Neuinfektionen, in Deutschland 15.
"Spanien überholt"
"Wenn man die Infizierungszahlen in Relation zur Anzahl der Bevölkerung sieht, liegt Ungarn jetzt auf Platz zwei – hinter Frankreich. Damit hat Ungarn Spanien überholt", sagte Ferenc Jakab, Virologe an der Universität in Pécs, im Gespräch mit der Tagesschau.
Als Reaktion auf die hohe Zahl der Neuinfektionen verschärfte die Regierung Mitte September ihre Schutzvorkehrungen. Gaststätten und Vergnügungslokale müssen seitdem um 23 Uhr schließen, die Maskenpflicht wurde auf Ämter, Gesundheitseinrichtungen, Kinos und Theater ausgeweitet. Vorher galt sie schon für öffentliche Verkehrsmittel und in Geschäften.
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Der Ministerpräsident wandte sich schon Mitte September via Facebook an die Bevölkerung. "Die Epidemieexperten denken, dass uns der Höhepunkt der zweiten Welle irgendwann im Dezember oder Januar erreicht. So lange müssen wir uns ständig gegen das Virus verteidigen", erklärte Orban. Er sprach von Verteidigung, nicht von Vernunft und Verantwortung des Einzelnen. Und eines ist klar: Die zweite Welle kam früher, als die ungarische Regierung sie erwartet hatte.
Orban schiebt Schuld auf das Ausland
Die Wortwahl verwendet Orban nicht ohne Grund. Die Regierung schottet das Land in der Pandemie weiter ab, bereits am 1. September war eine Grenzsperre für Ausländer in Kraft getreten: Ausnahmen gelten für Diplomaten, Geschäftsreisende und ganz aktuell Fußballfans. Ungarn und Ausländer mit Wohnsitz in Ungarn müssen sich nach Rückkehr aus dem Ausland in eine 14-tägige Quarantäne begeben.
Orban hat Angst, dass die Bevölkerung ihn persönlich für die Folgen der Krise verantwortlich machen könnte, die nächste Parlamentswahl ist schon im Jahr 2022. Deshalb orientiert er sich an der politischen Marschrichtung von Donald Trump, der das Coronavirus als "China-Virus" bezeichnet. Orbans Nachricht an die Ungarn: Das Ausland ist Schuld, ich bin es nicht.
"Das Virus wurde aus dem Ausland eingeschleppt. Deswegen hat sich die Regierung entschieden, dass sie die Einreisebeschränkungen aufrechterhält", sagte er in einem Video. Nun gibt es im ungarischen Fernsehen wieder Bilder von Zäunen und Stacheldraht – damit hatte Orban schon während der Flüchtlingskrise ab 2015 politischen Erfolg.
Unvernunft in der Sommerzeit
Die Corona-Pandemie hat Orban genutzt, um sich Notstandsvollmachten auf unbestimmte Zeit zu geben. Momentan kann er per Dekret regieren, Medien, die in den Augen der Regierung unwahrhaftig berichten, können sanktioniert werden. Ein schwerer Schlag für die Pressefreiheit, Ungarn muss deshalb mit Strafmaßnahmen durch die Europäische Union rechnen. Die blieben bislang allerdings aus.
Experten im Land sehen dagegen die Corona-Politik der Regierung kritisch bis hochgefährlich. Laut dem Großteil der Wissenschaftler geht die Zahl der Neuinfektionen auf das sorglose Verhalten der Bevölkerung in den Sommermonaten zurück, als es im Land nur ein schwaches Infektionsgeschehen gab. Die Menschen in Budapest feierten in Bars, es gab Berichte über große Menschenansammlungen in Bädern und auf öffentlichen Plätzen. Es gab also Maßnahmen, aber sie wurden nicht durchgesetzt.
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Kritik aus Budapest
In der ungarischen Hauptstadt ist die Infektionslage besonders dramatisch. Die Bundesregierung erklärte Budapest zum Risikogebiet. Kritik an der Corona-Politik Orbans kommt auch vom Bürgermeister Gergely Karácsony von der oppositionellen Partei Párbeszéd. "Neun von zehn Ungarn haben sich im Land mit dem Virus angesteckt. Das wissen wir", sagte er im Gespräch mit der Tagesschau. "Die Epidemie breitet sich momentan zwischen Jugendlichen aus."
Auch deswegen richtete der Bürgermeister einen Appell an die Bevölkerung, sich an die Maßnahmen zu halten, um die älteren Bürger zu schützen. "Ich bitte alle, weiter die Maske zu tragen. Ab jetzt werden wir jede Verletzung der Vorschriften sanktionieren", erklärte Karácsony Mitte September. Das Fahren ohne Maske in öffentlichen Verkehrsmitteln in Budapest kostet nun 22 Euro Strafe.
Angst vor dem Virus spielt mit
In das Szenario der sich ausbreitenden Corona-Pandemie passt ein Fußballspiel in Budapest eigentlich gar nicht. Janos Szlavik, Chef-Epidemiologe am Süd-Pester Zentralkrankenhaus, hält das Spiel für einen "riskanten Versuch", die Opposition geht noch weiter.
"Wir fordern, dass Ministerpräsident Viktor Orban und seine Regierung dieses Spiel sofort absagen", sagte Ildiko Borbely von der sozialdemokratischen Oppositionspartei MSZP. Wenn Gesundheit Priorität habe, sei klar: "Ungarn kann dieses Spiel nicht austragen."
Aber das ist nun zu spät, Orban wird das Spiel nicht mehr absagen. Es bleibt zu hoffen, dass sich die deutschen, spanischen und ungarischen Fans an die Abstandsregeln halten. Denn Bilder von Verstößen würden der ungarischen Regierung nutzen, um die Schuldigen im Ausland zu suchen und um so die eigene Sorglosigkeit in der Bekämpfung der Pandemie zu kaschieren.
Aber selbst bei allergrößter Vorsicht, angesichts der aktuellen Corona-Lage in Ungarn, ist ein Fußballspiel vor Tausenden Fans leichtsinnig – und eines ist klar: Die Angst vor dem Virus spielt mit.
- Coronavirus in Ungarn: Mehr Fälle und ein Spiel im Risikogebiet (Tagesschau)
- Corona in Ungarn: Zahlen erreichen neues Rekordniveau (Merkur)
- Ungarn: Keine Einreise für Touristen (SWP)
- Europäische Union: Orbáns Absage an den Westen (Deutsche Welle)
- Nachrichtenagenturen dpa und sid
- Eigene Recherche