Ausstieg am 31. Januar EU-Kommission: Brexit-Verhandlungsfrist sehr knapp
London/Brüssel/Edinburgh (dpa) - Der britische Premierminister Boris Johnson will Medienberichten zufolge eine Verlängerung der Übergangsphase nach dem Brexit gesetzlich ausschließen. Das berichtete unter anderem die britische Nachrichtenagentur PA am Dienstag unter Berufung auf Regierungsquellen.
Kritik daran kam umgehend von der Opposition und aus Brüssel. Durch den Schritt drohe ein neues No-Deal-Szenario Ende 2020, so die Warnungen. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon erhöhte indessen den Druck für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum in ihrem Landesteil.
Johnson will Großbritannien am 31. Januar aus der EU führen. In einer Übergangsphase bis Ende 2020 bleibt aber zunächst so gut wie alles beim Alten. Bis dahin wollen beide Seiten ein Freihandelsabkommen aushandeln. Die Zeit gilt dafür jedoch als äußerst knapp.
Eine Verlängerung der Übergangsphase um bis zu zwei Jahre ist noch bis Juli möglich, doch Johnson lehnte das vehement ab. Trotzdem wurde spekuliert, der Regierungschef könnte möglicherweise seine Meinung noch ändern. Doch das soll nun eine hinzugefügte Passage im Ratifizierungsgesetz für den Brexit-Deal ausschließen. Über den Gesetzentwurf will Johnson noch an diesem Freitag im Unterhaus abstimmen lassen. Die Labour-Opposition warnte, der Schritt erhöhe die Gefahr eines EU-Austritts ohne Anschlussabkommen und damit die Einführung von erheblichen Handelshemmnissen.
Auch in Brüssel traf Johnsons Plan auf Unverständnis und Kritik. "Es wird verdammt schwierig, in nur elf Monaten einen Deal fertig und ratifiziert zu bekommen", sagte ein EU-Diplomat am Dienstag. Die Verhandlungen würden sehr schwierig und im Falle eines Scheiterns drohe doch noch ein harter Bruch Ende 2020. "Es scheint nicht logisch, sofort die Tür zu einer Verlängerung zu schließen", sagte der Diplomat. "Wenn man seine Optionen ohne Not begrenzt, indem man Türen verrammelt, hat man wohl besser einen David Copperfield im Raum, um nötigenfalls einen Ausweg zu finden."
Die Position der Europäischen Union habe sich nicht verändert. "Wir wollen ein gutes Abkommen mit unseren engen britischen Nachbarn abschließen." Sollte Großbritannien jedoch wie ein Schlafwandler in ein No-Deal-Szenario taumeln, das niemand wolle, werde die EU vorbereitet sein, die Auswirkungen auf ihre Mitglieder in Grenzen zu halten, sagte der Diplomat.
Die Zeit sei sehr knapp für eine Einigung über ein umfassendes Handelsabkommen, sagte der Vizepräsident der EU-Kommission Valdis Dombrovskis am Dienstag in Straßburg. "Wir müssen sehen, was genau in dieser Frist erreicht werden kann." Bestimmte Dinge seien in diesem Zeitrahmen nicht möglich, fügte er hinzu.
Kommissionschefin Ursula von der Leyen vereinbarte derweil mit Johnson einen raschen Start der Verhandlungen über die künftigen Beziehungen nach dem Brexit. "Wir werden uns Anfang 2020 treffen", schrieb von der Leyen nach einem Telefonat mit Johnson auf Twitter. "Großbritannien wird immer ein Freund, Partner und Verbündeter sein."
Erstmals seit dem überwältigenden Wahlsieg von Johnsons Konservativen kam das Kabinett in London am Dienstag im Regierungssitz Downing Street 10 zusammen. Johnson kündigte dabei an, "frenetisch" an den Prioritäten der Bevölkerung zu arbeiten. "Das war erst der Anfang, Leute", so Johnson. "Wir sollten uns absolut nicht dafür schämen zu sagen, dass dies eine Regierung des Volkes ist (...)".
Später traten auch die neu gewählten Abgeordneten zur konstituierenden Sitzung des Unterhauses zusammen. Dabei stand vor allem die Wahl des Parlamentspräsidenten auf dem Programm. Der amtierende Speaker of the House of Commons, Lindsay Hoyle, wurde einstimmig wiedergewählt. Er hatte das Amt erst im November von John Bercow übernommen. Johnson gratulierte Hoyle zur Wiederwahl. Das neu gewählte Parlament sei "eine riesige Verbesserung" gegenüber der vorherigen Besetzung, sagte Johnson, der von seiner Fraktion mit ohrenbetäubenden "Yeah"-Rufen empfangen wurde. "Es wird den Brexit durchziehen."
Am Donnerstag wird das Parlament von Königin Elizabeth II. offiziell wiedereröffnet. Die Queen verliest dann das Regierungsprogramm des Premierministers.
Die Zustimmung der Abgeordneten zum Ratifizierungsgesetz am Freitag gilt als sicher. Einem Bericht der "Times" zufolge sollen aus dem Gesetzentwurf auch Bekenntnisse zur Einhaltung von EU-Standards in Sachen Arbeitnehmerrechten gestrichen werden. Die Opposition dürfte dagegen Sturm laufen, doch angesichts der Tory-Übermacht im Unterhaus ist Gegenwehr vergeblich.
Druck auf die Regierung kommt aus Schottland. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon forderte für kommendes Jahr ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit ihres Landesteils. Sie werde noch in dieser Woche "den detaillierten, demokratischen Standpunkt" für einen Transfer der Entscheidungsgewalt über ein Referendum von London nach Edinburgh vorbringen, sagte Sturgeon im Regionalparlament in der schottischen Hauptstadt. Ob eine Volksabstimmung stattfinden kann, entscheidet bislang die Zentralregierung in London. Das soll sich nach dem Willen Sturgeons ändern.
Rund 55 Prozent der Schotten hatten sich bei einem ersten Referendum im Jahr 2014 gegen eine Abspaltung vom Vereinigten Königreich ausgesprochen. Sturgeon argumentiert jedoch, die Umstände hätten sich durch das Brexit-Referendum von 2016 verändert. Damals stimmte eine knappe Mehrheit der Briten für den EU-Austritt. Die Schotten votierten aber mit 62 Prozent gegen den Brexit. Schottland werde daher gegen seinen Willen aus der EU gezerrt, sagte Sturgeon. Premierminister Boris Johnson hält hingegen nichts von einem zweiten Schottland-Referendum.