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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Roter Aufmarsch in Wien Kampf gegen die "Retropolitik" von Kanzler Kurz
Österreichs Sozialdemokraten feiern in ihrer Hochburg Wien den 1. Mai. Die Festredner greifen die Regierung von Sebastian Kurz scharf an. Doch dabei belassen sie es nicht.
In Berlin war der 1. Mai einst Anlass für Gewaltausbrüche wütender oder gelangweilter Linker. Heute ist er Anlass für ein großes Volksfest mit Fleischspießen und guter Laune. In Wien war der 1. Mai immer der Tag, an dem die Sozialdemokratie sich selbst feierte. Die Stadt gehört der SPÖ, der Schwesterpartei der SPD. Sie hält vor dem Rathaus eine große Kundgebung ab.
Diesmal aber ist etwas anders. Seit Dezember regiert in Wien eine schwarz-blaue Koalition von ÖVP und FPÖ: Der schneidige Sebastian Kurz koaliert mit der extrem rechten FPÖ, deren Parteichef HC Strache, jetzt Vize-Kanzler, einst Neo-Nazi-Kontakte pflegte.
Die Regierung hat Maßnahmen in einem abenteuerlichen Tempo angekündigt, die Sozialdemokraten verärgern müssen: 60-Stunden-Woche, Kürzung der Gelder für die Arbeitervertretungen; Kürzungen bei der Unfallversicherung; Deckelung der Strafen für Unternehmen, die Sozialbetrug begehen.
Vor dem Rathaus in Wien ist eine Bühne aufgebaut. Flaggen wehen. Im Rathaus saß seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stets ein Sozialdemokrat. Das Rote Wien nennt man die Hauptstadt, weil sie so fest in der Hand der SPÖ ist. Auf der Bühne stehen Honoratioren, der Parteichef und Ex-Kanzler Christian Kern etwa und der scheidende Bürgermeister Michael Häupl, in den Händen rote Tücher, mit denen sie huldvoll winken.
Auf den Platz vor ihnen ziehen nach und nach die Delegation aus allen 23 Wiener Bezirken ein. Teilweise waren sie fast zwei Stunden unterwegs für ihren langen Marsch durch Wien, alles ist minutiös geplant: 9.40 Uhr, der 14. und der 9. Bezirk; 9.50 Uhr der 10. und der 17. Bezirk.
Über Lautsprecher werden Amtsträger begrüßt und Herzenansliegen der Verbände vorgetragen: Kreisverkehr, mehr Bildung, Lärmschutz, Pflege, Kürzungen bei den Sozialleistungen. Viel Klein-Klein. Lokalpolitik eben.
Dann aber wird es grundsätzlicher und größer und pathetischer.
Ex-Kanzler Kern: Kampf für die liberale Demokratie
Die Festredner, darunter der designierte Wiener Bürgermeister Michael Ludwig, der scheidende Bürgermeister Michael Häupl, die neue Vorsitzende der Arbeiterkammer Renate Anderl und Parteichef Christian Kern, loben die Errungenschaften der Partei - und greifen die Regierung immer wieder an.
Man müsse sich einstellen "auf Zeiten, in denen wir zusammenrücken müssen", sagt Ludwig. Die Regierung betreibe "Retropolitik".
Man erlebe "eine permanente Grenzverschiebung der politischen Macht und des Anstands nach rechts", sagt Kern. Es tobe ein Kampf zwischen denen, die eine illiberale autoritäre Demokratie wollten wie Strache, und denen, die für die liberale Demokratie kämpften.
Man spüre die Veränderung, "es weht ein kalter Wind", zitiert Häupl eine Journalistin.
Die Botschaft: Wir sind da, wir stellen uns der Regierung in den Weg. Wir standen, wie Kern es ausdrückt, "jedes Mal auf der richtigen Seite der Geschichte". Da jubelt die sonst eher ruhige Masse vernehmlich. 120.000 Menschen sollen es sein, laut SPÖ. Vor Ort sieht es nach weniger aus, deutlich weniger. Offizielle Zahlen gibt es nicht.
Klare Botschaften, wenn es grundsätzlich wird
Es ist auffällig, dass Erinnerungen an vergangene Großtaten und das Pathos des Kampfes gegen die extreme Rechte eher viele Reaktionen hervorrufen, die inhaltliche Kritik an den arbeitspolitischen Plänen der Regierung weniger.
Womöglich wissen die Genossen gar nicht genau, über welche der vielen Zumutungen sie sich eigentlich am meisten empören sollen.
Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die Botschaft von der Bühne immer dann klar ist, wenn sie grundsätzlich wird: Es tobe ein Kampf um die Rettung der liberalen Demokratie, und die FPÖ stehe auf der falschen Seite. Kanzler Kurz schaue weg.
Um Konstruktivität bemüht
Dagegen bemühen sich die Redner um Konstruktivität, wenn es um konkrete Politik geht: "Ich strecke meine Hand bewusst all jenen aus, die gemeinsam gute Lösungen finden wollen", sagt Anderl, und es ist auch die Botschaft der anderen: Die SPÖ werde an Lösungen arbeiten, ein Gegenmodell präsentieren, es nicht bei Kritik belassen.
So entschärfen die Redner ihre Kritik. Aus dem klaren "dagegen" wird ein noch unbestimmtes "für etwas anderes". Der Applaus bleibt spärlich.
Am lautesten wird er, als es wieder einfach wird: Michael Häupl wird nach 24 Jahren als Wiener Bürgermeister verabschiedet. "Du bist eine Legende, und zwar schon zu Lebzeiten", sagt Parteichef Kern. Als Häupl nach seiner knappen Abschiedsrede den vorderen Teil der Bühne verlässt, erheben sich Rufe: "Zugabe, Zugabe!"
Der umjubelte Häupl wischt mit der Hand vor seiner Stirn hin und her, ihr seid's doch deppert, soll das heißen. Geht nach vorn. "Ich bin kein Popsänger", sagt er. "Das mit der Zugabe funktioniert nicht. Ich wünsche euch einen schönen 1. Mai."
Dann geht er ab. Auch das war eine klare Botschaft.
- Eigene Recherchen