Konflikt um Nordirland Experten warnen vor Handelskrieg im Brexit-Streit
Das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien steht auf der Kippe. Die britische Regierung hatte zuletzt eine Frist zum Sonderstatus von Nordirland immer weiter herausgezögert.
Die Nerven liegen blank: Der Streit zwischen London und Brüssel über den Sonderstatus der britischen Provinz Nordirland droht zu eskalieren. Nur einen Tag, bevor die EU mit Lösungsvorschlägen für den Streit um das sogenannte Nordirland-Protokoll aufwarten wollte, goss der britische Brexit-Minister David Frost noch einmal Öl ins Feuer.
Bei einer Rede in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon warnte er die EU davor, einen "historischen Fehler" zu begehen, und forderte die Ablösung der als Teil des Brexit-Abkommens von London und Brüssel geschlossenen Vereinbarung.
Unter anderem verlangt Frost, die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) als Instanz für die Überwachung der Regeln des Protokolls müsse enden – ein Punkt, der nach Ansicht von Experten aus Brüsseler Sicht nicht verhandelbar ist. Die Hoffnungen auf eine Einigung in dem seit Monaten schwelenden Streit dürften damit weiter schwinden.
Droht nun der Handelskrieg?
Die Forderung sei praktisch nicht zu erfüllen, sagte Holger Hestermeyer, Professor für Internationales Recht und Europarecht am King's College London. Die EU habe bei der Rolle des EuGH "rechtlich kaum Verhandlungsspielraum", was beiden Seiten bekannt sei. Im schlimmsten Fall könne der Streit zu einer Aufkündigung des Freihandelsabkommens führen, warnte Hestermeyer. Auch andere Experten warnen vor einem drohenden Handelskrieg zwischen Brüssel und London.
Der Analyst Mujtaba Rahman vom Beratungsunternehmen Eurasia Group glaubt, dass eine drastische Maßnahme von Seiten der EU immer wahrscheinlicher wird. Sollte London das Nordirland-Protokoll infrage stellen, stehe auch das Handelsabkommen auf der Kippe, schrieb Rahman auf Twitter.
Mit dem Nordirland-Protokoll gelang während der britischen Austrittsverhandlungen der Durchbruch im Streit um die frühere Bürgerkriegsregion. Das Abkommen sieht vor, dass die britische Provinz weiterhin den Regeln des EU-Binnenmarkts und der Zollunion folgt. Damit soll eine harte Grenze zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Republik Irland – und ein neuerlicher Ausbruch des Konflikts um eine Wiedervereinigung der Insel – verhindert werden.
Twitter-Gefecht mitten in der Nacht
Notwendig werden dadurch aber Kontrollen zwischen dem Rest des Vereinigten Königreichs und Nordirland. London will sich nämlich nicht mehr an EU-Standards binden. Waren, die von England, Schottland und Wales nach Nordirland gelangen, müssen nun angemeldet und teilweise kontrolliert werden. Einige Produkte wie zum Beispiel gekühltes Fleisch dürfen nach Ablauf einer Gnadenfrist gar nicht mehr eingeführt werden – die britische Presse bezeichnete den Streit daher auch als "Würstchenkrieg".
Wie blank die Nerven inzwischen liegen, zeigt ein nächtliches Twitter-Gefecht zwischen Irlands Außenminister Simon Coveney und Frost: Coveney warf Frost vor, immer neue Forderungen zu stellen. "Echte Frage: Will die britische Regierung eigentlich einen gemeinsam beschlossenen Weg vorwärts oder einen weiteren Zusammenbruch der Beziehungen?", schrieb Coveney am Sonntag in einem Tweet nach Mitternacht.
Frost wollte das offenbar nicht auf sich sitzen lassen und antwortete – um halb zwei Uhr morgens – mit mehreren Kurznachrichten: Die Kritik am EuGH sei nicht neu, die Gegenseite habe einfach nicht richtig zugehört.
London will nachverhandeln, EU blockt ab
Den Anhängern der Union mit Großbritannien in Nordirland ist das Protokoll ein Dorn im Auge. Sie fürchten, dadurch vom Vereinigten Königreich abgekapselt zu werden. Die britische Regierung, die für die Kontrollen zuständig sein soll, hatte unter anderem bei Fleischprodukten eine zunächst gewährte Gnadenfrist einseitig verlängert. Ein von Brüssel eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren diesbezüglich liegt derzeit auf Eis.
Großbritanniens Premierminister Boris Johnson hatte das von ihm unterzeichnete Nordirland-Protokoll zunächst als großartigen Erfolg gefeiert. Mit der Einigung wurde der Weg frei für das Brexit-Abkommen und ein gefürchteter No-Deal-Brexit verhindert. Johnson wurde mit einem überwältigenden Sieg bei der Parlamentswahl im Dezember 2019 belohnt. Inzwischen klagt die Regierung in London aber immer mehr über die Konsequenzen des Protokolls und will nachverhandeln.
EU-Kommissionsvizepräsident Maros Sefcovic hatte stets betont, am Rahmen des Protokolls werde nicht gerüttelt, aber praktische Lösungsansätze versprochen. Erwartet wird, dass die Kommission am Mittwoch konkrete Vorschläge macht, um beispielsweise den Import von britischen Würsten und Medikamenten nach Nordirland zu ermöglichen.
- Nachrichtenagentur dpa