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Der Brexit und Deutschland: Wir werden uns wünschen, wir wären ausgetreten


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Deutschland und der Brexit
Wir werden uns wünschen, wir wären ebenfalls ausgetreten

MeinungEin Gastbeitrag von Daniel Stelter

Aktualisiert am 01.02.2020Lesedauer: 5 Min.
Premierminister Boris Johnson in seinem Londoner Amtssitz: Zahlt sich der EU-Austritt für Grobritannien am Ende gar aus?Vergrößern des Bildes
Premierminister Boris Johnson in seinem Londoner Amtssitz: Zahlt sich der EU-Austritt für Grobritannien am Ende gar aus? (Quelle: Kevin Lamarque/ap-bilder)
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Mit dem Brexit sind die Briten nicht weg. Im Gegenteil: Der Inselstaat erfindet sich neu und hat die Chance, zum neuen Taktgeber Europas zu werden, meint Wirtschaftswissenschaftler Daniel Stelter.

In der Nacht von Freitag zu Samstag entstanden in Europa neue Realitäten: Die Europäische Union wurde erheblich kleiner, denn mit Großbritannien verlässt nicht irgendein Land die Gemeinschaft. Die kommende Übergangszeit, quasi das Trennungsjahr, mag uns glauben machen, es wird schon irgendwie gut gehen. Aber lassen wir uns nicht täuschen, mindestens kurz- und mittelfristig werden sowohl die Briten als auch die Europäische Union Schaden nehmen. Immerhin entspricht die Wirtschaftskraft des Vereinigten Königreichs der Summe der Wirtschaftsleistung der 20 kleinsten EU-Länder. Es ist also so, als würden 20 von 28 Ländern gleichzeitig austreten. Parallel wird die EU ihr Verhältnis zu Großbritannien neu ordnen.


Das alles wird nicht ohne Folgen bleiben. Doch langfristig könnte sich der Brexit auszahlen, spricht doch einiges dafür, dass die Briten in einigen Jahren verglichen mit uns gar nicht so schlecht dastehen. Für die Rest-EU heißt das "Augen auf, beim Vertragsabschluss!"

Kein Absturz der Konjunktur

Ginge es nach den Experten, müsste sich die britische Wirtschaft heute in einer tiefen Rezession befinden. Alle haben vor dramatischen Brexit-Folgen gewarnt. Der Immobilienmarkt würde kollabieren, der Konsum einbrechen und die Wirtschaft abstürzen. Nichts davon ist im vorhergesagten Umfang geschehen. Wenn die kurzfristigen Vorhersagen so falsch waren, weshalb sollte dann die Langfristprognose stimmen?

Heilsamer Schock zur Modernisierung der Wirtschaft

Richtig, das Pfund ist deutlich eingebrochen. Aber dadurch wurden Exporte gefördert und Importe verteuert. Ein höchst willkommener Effekt, war doch das hohe Handelsdefizit auf Dauer nicht tragbar. Außerdem stellt die Regierung das bisherige Wirtschaftsmodell infrage und setzt auf Reindustrialisierung. Niedrigere Steuern sollen ausländische Investoren anziehen. Gut möglich also, dass der Brexit-Schock die Grundlage für einen mittelfristigen Aufschwung der britischen Wirtschaft legt.

Positive demografische Entwicklung

Großbritannien wird spätestens 2050 mehr Einwohner haben als Deutschland. Die Bevölkerung ist kontinuierlich gewachsen und es sieht so aus, als würde sich an diesem Trend nichts ändern. In Deutschland steht besonders die Zahl der Erwerbsbevölkerung in den kommenden zehn Jahren vor einem dramatischen Einbruch. Da Wirtschaftswachstum im Kern von der Entwicklung der Erwerbsbevölkerung und deren Produktivität abhängt, ist England im Vorteil.

Attraktiv für qualifizierte Zuwanderung

Zwar hat die Zuwanderung der letzten Jahre auch zur Brexit-Stimmung beigetragen, aber es wird immer wieder übersehen, dass die Befürworter des Brexits keineswegs gegen jede Einwanderung sind. Im Gegenteil, ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild wurde diskutiert. Verbunden mit dem Vorteil der Sprache bliebe das Land damit für qualifizierte Zuwanderer attraktiv. Länder, die sich die Migranten aussuchen können, haben weniger Zuwanderung in Sozialsysteme und deutlich mehr Erfolg bei der Integration. Deshalb sind die Lasten der Umverteilung geringer, was wiederum das Wirtschaftswachstum und die Attraktivität für qualifizierte Zuwanderer erhöht.

Führende Stellung in Elitenbildung

Dabei hilft auch, dass Großbritannien in Sachen Spitzenbildung viel zu bieten hat. Im aktuellen Ranking der 100 besten Universitäten der Welt ist Großbritannien immerhin mit elf Unis vertreten. Die EU bringt es (ohne Großbritannien) auf 20, davon acht deutsche Universitäten. Eine gesteuerte Einwanderung, ein herausragendes Bildungssystem und die geringe Sprachbarriere dürften zu einem deutlichen Wettbewerbsvorteil werden.

Marktwirtschaftliche Tradition

Durch die EU ist Großbritannien an Länder gebunden, die nicht das gleiche Wirtschaftsprofil und eine unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit haben. Deutschland, Holland, Schweden und Irland fallen in dieselbe Kategorie wie England. Frankreich, Italien, Spanien und Portugal eindeutig nicht. Wenn England aus der EU ausscheidet, würden sich höhere Produktivität und geringere Umverteilung zugunsten der schwächeren Länder positiv auszahlen. Hinzu kommt eine stark marktwirtschaftliche Tradition in Großbritannien, die noch mehr als wir auf die Kraft der Märkte und persönliche Freiheit setzt, als auf staatliche Umverteilung.

Unbestrittenes Weltfinanzzentrum

Die City of London wird das Weltfinanzzentrum bleiben. Es ist nicht so einfach, ein Kompetenzzentrum zu verlagern. Zwar gab es eine Gründungswelle von Tochtergesellschaften im Euroraum, die Masse der Kompetenz wird bleiben, wo sie ist. In London. Und London könnte von der unstrittigen Kompetenz, der eigenen Währung und der Befreiung von Brüsseler Bürokratie sogar profitieren. Erste Stimmen sprechen bereits von einer künftigen Schweiz.

Höheres Wirtschaftswachstum

Großbritannien hat gute Chancen, in den kommenden Jahrzehnten schneller zu wachsen als die Eurozone und auch Deutschland. Zwar beabsichtigt die EU, mit ihrer harten Verhandlungshaltung ein Exempel zu statuieren, doch ob sie das bis zum Schluss durchhalten kann, ist mehr als fraglich. England ist ein wichtiger Absatzmarkt, gerade auch für Deutschland. Immerhin exportieren wir Waren im Wert von 85 Milliarden Euro nach Großbritannien, das nebenbei der zweitgrößte Exportmarkt für deutsche Autos ist.

Und die EU?

Derweil sieht es für die EU nicht gerade rosig aus. Das Wohlstandsversprechen, das die EU gegeben hat, wird spätestens seit 2008 nicht mehr erfüllt. Davor hat der Binnenmarkt – und vor allem der vom Euro ausgelöste Verschuldungsboom – zu einer Wohlstandsillusion beigetragen.

Die Vorstellung der Politik, durch eine "sozialere" Gestaltung der EU den gefühlten Wohlstand und damit die Attraktivität der EU zu erhöhen, wird das Gegenteil bewirken: Es ist die Fortsetzung einer Politik, die Verteilen vor Schaffen von Wohlstand stellt. Gerade für uns Deutsche sind das keine guten Aussichten, weil unsere Handelsüberschüsse fälschlicherweise mit Reichtum gleichgesetzt werden, obwohl alle Studien zeigen, dass in den meisten EU-Ländern das Privatvermögen pro Kopf deutlich über hiesigem Niveau liegt.

In zehn Jahren wünschen wir, wir wären ausgetreten

Natürlich lassen sich auch mit Blick auf Großbritannien etliche wirtschaftliche Probleme feststellen: einseitige Abhängigkeit vom Finanzsektor, riesiges Handelsdefizit, schlechte Bildung der breiten Schichten ohne Zugang zu den herausragenden Privatschulen und eine Infrastruktur, die erheblichen Nachholbedarf hat.

Wenn wir jedoch nüchtern auf Deutschland blicken, müssen wir feststellen, dass es bei uns nicht wirklich besser aussieht. So belegt Großbritannien den letzten Platz in Europa beim Punkt Internet. Den vorletzten belegen wir. Auch hierzulande ist die Infrastruktur in den letzten Jahren massiv vernachlässigt worden und die "schwarze Null" ist eine Mogelpackung der Politik, wurde doch weniger gespart als die Zinsersparnis aus der Rettungspolitik der EZB.

Großbritannien hat in den vergangenen Jahrhunderten wenig grundlegende Fehler gemacht. Es könnte gut sein, dass auch der Brexit keiner ist. Im Gegenteil. Das Brexit-Desaster für die Briten ist nicht so ausgemacht, wie es gerne dargestellt wird.

Daniel Stelter zählt zu den führenden Ökonomen Deutschlands und betreibt den Blog "Think beyond the obvious", in dem er wirtschaftliche und finanzpolitische Themen analysiert und kommentiert.

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