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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Europawahl in Großbritannien Kein klarer Sieg für die Brexit-Hardliner
Er hat es geschafft. Nigel Farage ist mit seiner Brexit-Partei die stärkste Kraft bei der Europawahl in Großbritannien geworden. Ein klares Votum für den Brexit ist das Ergebnis aber nicht.
Mehr als 30 Prozent der Briten haben für Nigel Farages EU-feindliche Brexit-Partei gestimmt. Farage jubelte: "Das ist ein großes Signal" – und forderte einen Platz am Brexit-Verhandlungstisch. Er will einen EU-Austritt bis zum 31. Oktober, auch ohne Ausstiegsvertrag, und warnt: "Wenn wir nicht zu diesem Termin gehen, können Sie mit einer neuen Überraschung der Brexit-Partei bei den nächsten Parlamentswahlen rechnen."
Farage will für Großbritannien nichts anderes als eine Revolution des Parteiensystems. Seine Partei wolle die britische Politik fundamental ändern und in London ein Parlament gestalten, das das Land besser widerspiegele, betont Farage. Er will mit seiner Brexit-Partei die konservativen Torys ersetzen. Doch auch wenn das Ergebnis der Europawahl eindeutig ist – die Torys kamen auf 8,7 Prozent und sind damit nur noch fünftstärkste Partei –, kann man das Ergebnis der Europawahl nicht einfach auf die nächsten Parlamentswahlen in Großbritannien übertragen.
Große Unterschiede bei Europa- und Parlamentswahlen
Die Briten haben schon oft in Europa- und Parlamentswahlen extrem unterschiedlich abgestimmt. Bei der Europawahl 2014 wurde die europafeindliche UKIP – mit dem damaligen Parteivorsitzenden Farage – mit knapp 27 Prozent stärkste Kraft vor Labour (rund 24 Prozent) und den Konservativen (23 Prozent). Bei der britischen Unterhauswahl 2015 kam UKIP nur noch auf knapp 13 Prozent, während die Torys knapp 37 und Labour rund 31 Prozent erreichten. Bei der Parlamentswahl 2017 lag UKIP dann nur noch bei 2 Prozent.
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Dazu kommt: Bei der Europawahl gilt der Grundsatz der Verhältniswahl, während bei Parlamentswahlen in Großbritannien das Wahlsystem der relativen Mehrheitswahl angewandt wird.
Das besondere Wahlsystem der Briten
Der Unterschied: Wenn bei einer reinen Verhältniswahl eine Partei zehn Prozent der Stimmen erhält, erhält sie auch zehn Prozent der Parlamentssitze. Beim Mehrheitswahlrecht, wie in Großbritannien angewandt, zieht – nur – der Kandidat eines Wahlbezirks in das Parlament ein, der die meisten Stimmen bekommt. Die Stimmen des Verlierers einer solchen Entscheidung werden nicht im Parlament repräsentiert und sind so "verloren". Damit ist es theoretisch möglich, dass eine Partei, die landesweit zwar eine hohe Prozentzahl der Wählerstimmen erhält, nur wenige Sitze im Parlament bekommt.
Für die Brexit-Partei bedeutet das bei einer möglichen Parlamentswahl in Großbritannien, dass sie nicht nur möglichst viele Stimmen bekommen muss, sondern auch die meisten Stimmen in den entscheidenden Wahlbezirken.
Brexit-Gegner bekommen mehr Stimmen als Brexit-Hardliner
Das Ergebnis der Europawahl in Großbritannien ist auch kein so klares Votum für den Brexit, wie Farage es darstellt. Die Parteien, die eindeutig einen harten Brexit unterstützen (Brexit-Partei und UKIP) kommen bei der Europawahl auf knapp 37 Prozent. Die Parteien, die sich gegen einen Brexit aussprechen (Liberal-Demokraten, Grüne, Change UK und die walisische Plaid Cymru) erreichen dagegen etwas über 40 Prozent.
Labour und die Konservativen, die intern und untereinander vollkommen zerstritten über den Brexit sind, kommen zusammen auf rund 23 Prozent. Beachten muss man auch: Nur 36,5 Prozent der Briten haben bei der Europawahl gewählt. Bei der letzten Parlamentswahl 2017 lag die Wahlbeteiligung bei knapp 69 Prozent.
Großbritannien bleibt gespalten
Die Europawahl zeigt also, dass die Briten nach wie vor tief gespalten darüber sind, wie es mit dem Brexit weitergehen soll. Wer immer die Nachfolgerin oder der Nachfolger von Theresa May wird, muss eine Lösung für dieses Dilemma finden. Die Ergebnisse der Europawahl zeigen auch, dass derzeit sowohl Neuwahlen als auch ein zweites Referendum dieses Problem nicht lösen würden.
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Das bedeutet: Nur ein parteienübergreifender Kompromiss zum Brexit kann eine Lösung sein. Genau daran ist May gescheitert. Sollte auch ihre Nachfolgerin oder ihr Nachfolger daran scheitern, bleiben nur noch ein harter Brexit – oder die Absage des EU-Austritts.
Trotz des beeindruckenden Ergebnisses der Brexit-Partei bei der Europawahl: Ob Farage wirklich die Torys von der politischen Bühne in Großbritannien verdrängen kann, ist noch lange nicht sicher. Viel hängt davon ab, wie die Konservativen nach Mays Rücktritt weitermachen und vor allem, wer Mays Nachfolge antritt. Gegen einen Boris Johnson als Chef der Torys dürfte selbst Farage bei einer Wahl nur wenig Argumente und Chancen haben.
- mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, Reuters, AFP
- BBC: Brexit Party dominates as Tories and Labour suffer (engl.)