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Interview: Auch im EU-Parlament warnen sich Frauen vor Männern


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Interview mit Grünen-Politikerin Reintke
Im EU-Parlament warnen sich Frauen vor Männern

Ein Interview von Jonas Schaible

Aktualisiert am 09.01.2018Lesedauer: 6 Min.
EU-Parlament in Straßburg: "Wo Macht ist, gibt es auch Machtmissbrauch."Vergrößern des Bildes
EU-Parlament in Straßburg: "Wo Macht ist, gibt es auch Machtmissbrauch." (Quelle: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Bei den Golden Globes demonstrierten die Hollywood-Stars in Schwarz gegen sexuelle Übergriffe. Über Belästigung in der Politik hört man wenig. Aber es gibt sie, sagt die Grünen-Politikerin Terry Reintke.

Terry Reintke, 30, sitzt für die Grünen im Europaparlament. Dort hat sie im Zuge der #MeToo-Debatte über ihre eigene Erfahrung mit Belästigung gesprochen. Auch dafür wurde sie vom Magazin "TIME" im Beitrag zur "Person of the Year" erwähnt.

Im Interview erzählt sie, dass sich Frauen überall vor gefährlichen Männern warnten – auch im Europaparlament. Und sie fordert politische Reformen und Unterstützung der Schauspielerinnen, die jetzt öffentlich Vorwürfe gegen den Regisseur Dieter Wedel erhoben haben.

Frau Reintke, wussten Sie vor einem halben Jahr, wer Harvey Weinstein ist?

Terry Reintke: Nein. Ich kenne mich in Hollywood nicht aus. Ich habe den Namen zum ersten Mal gehört, als über seine sexuellen Übergriffe berichtet wurde.

Wie lange haben Sie gebraucht, um zu verstehen: Die Berichte über diesen offenbar berühmten Mann werden Folgen haben?

Das Thema sexuelle Belästigung ist für mich auch eine politische Aufgabe. Deshalb habe ich mich sofort dafür interessiert. Aber dass die Debatte in so kurzer Zeit solche Wucht entwickelt – das hat mich überrascht.

Wie erklären Sie sich das? Das Thema ist ja nicht gerade neu.

Dass so viele Frauen aufgestanden sind und über ihre Erfahrungen öffentlich gesprochen haben, spielt sicherlich eine sehr wichtige Rolle. Bei dieser Anzahl von Berichten konnte man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Dazu kommt das Schweigen vieler Männern aus dem Umfeld von Weinstein, einige haben sogar geleugnet, dass es zu Fällen von sexueller Belästigung gekommen ist. Das hat eine unglaubliche Wut ausgelöst bei vielen Menschen.

Auch das Leugnen ist nicht neu. Ich rätsle noch: Was war diesmal anders?

Diese Debatte war überfällig. Bei Weinstein war es so, dass bereits vor Jahren Frauen von seinen Übergriffen berichtet haben. Aber es hieß: So ist der Harvey eben!

So etwas kennen viele Frauen. Da hat sich viel aufgestaut. Die letzten Wochen und Monate haben gezeigt, dass es an der Zeit ist, eine breite gesellschaftliche Debatte zu diesem Thema zu führen.

Die Debatte wurde dann in kurzer Zeit so groß, dass die "Time"-Redaktion die #MeToo-Bewegung zur Person of the Year erklärt hat. Auch Sie sind mit Foto und Namen erwähnt, weil sie im Europaparlament über einen Übergriff auf Sie in Duisburg gesprochen haben. Haben Sie sich über die Auszeichnung gefreut?

Der Anlass ist natürlich kein erfreulicher, aber es ist nicht lange her, da hieß die Auszeichnung noch: "Mann des Jahres". Da ist in kurzer Zeit wirklich viel passiert. Gleichzeitig ist klar: Wir müssen ungemütlich bleiben. Dafür gibt die Auszeichnung Kraft.

Was sagt die #MeToo-Debatte sonst über die Gesellschaft?

Sie weist über die Diskussion zu sexueller Belästigung hinaus: Überall erleben wir, dass Grundrechte infrage gestellt werden. Rechte, die wir für selbstverständlich gehalten haben. Entwicklungen, wie wir sie zum Beispiel in den USA, in Polen oder in Ungarn erleben. Wieder einmal wird klar, dass gesellschaftlicher Fortschritt kein Automatismus ist. Das macht diese Auszeichnung so wichtig. Sie sagt: Es liegt an euch! Die #MeToo-Bewegung zeigt: Gemeinsam können wir etwas verändern!

Oft werden autoritäre Bewegungen als Reaktion auch auf feministische Politik gedeutet. Für Sie gilt das Gegenteil?

Beides stimmt. Dass Donald Trump trotz seiner sexistischen Äußerungen gewählt wurde, zeigt auch, dass eine herablassende Haltung gegenüber Frauen weiterhin gang und gäbe ist. In den USA gab es deshalb den Women’s March. Hunderttausende Frauen sind auf die Straße gegangen, weil sie es nicht hinnehmen wollten, dass jemand wie Trump meint, Frauen vorschreiben zu können, was sie mit ihrem Körper machen, wie sie ihre Sexualität ausleben, welche Positionen sie bekleiden dürfen. Das waren nicht nur hochpolitische und feministische Frauen, sondern ein sehr breites gesellschaftliches Bündnis.

Man könnte sagen: Das war ein Sonderfall, weil es gegen den Sonderfall Trump ging. Glauben Sie, diese Frauen sind auch weiterhin offen für den Feminismus?

Auf jeden Fall. Da waren Frauen dabei, die sich noch nie zu solchen Themen geäußert haben, die sich nie als Feministinnen bezeichnet hätten. Von denen aber viele hinterher gesagt haben, dieser Begriff, den ich vorher nicht mit der Kneifzange anfassen wollte, ist attraktiv geworden. Weil er heute etwas beschreibt, was ganz direkt mit meinem persönlichen Leben zu tun hat.

Die #MeToo-Debatte fing an mit Weinstein, sie breitete sich aus über den Unterhaltungsbereich. Gerade in den USA wird nach und nach auch über Übergriffe in der Politik diskutiert. In Europa ist das kaum so. Weil hier alles gut ist?

Hier ist absolut nicht alles gut, nur weil es in Deutschland bisher noch keinen prominenten öffentlichen Fall gab. Wo Macht ist, gibt es auch Machtmissbrauch. Gerade in den obersten Etagen sitzen weiterhin vor allem Männer – in Politik, aber auch Wirtschaft oder Kultur. Machtmissbrauch nimmt dann auch die Form sexueller Belästigung an.

Im Europaparlament sitzen etwa 63 Prozent Männer, im Bundestag 69 Prozent – müssen wir davon ausgehen, dass es mehr Übergriffe gibt, als die, von denen wir gehört haben?

Ich gehe davon aus, dass es sexuelle Belästigung sehr viel häufiger gibt, als wir hören. Über sexuelle Belästigung wird leider noch weniger geredet als über andere Formen von Belästigung. Sexuelle Belästigung ist mit einem ganz besonderen Stigma behaftet und Betroffene fürchten negative Folgen für sich, wenn sie darüber sprechen.

Im Europaparlament gibt es ein eigenes Komitee gegen Belästigung. Nur: Das hat bisher fast keine Fälle von sexueller Belästigung behandelt. Entweder es gibt keine. Oder das System funktioniert nicht wie erhofft. Auch nach #MeToo wird nicht gesprochen. Was müsste denn passieren, damit sich das ändert?

Im Europaparlament haben wir als Folge der #MeToo-Kampagne eine Resolution verabschiedet. Darin stellen wir konkrete Forderungen auf, was passieren muss, um das bestehende System, das so offenbar nicht funktioniert, zu verbessern. Ein erster Schritt ist, dass eine unabhängige Kommission, die mit externen Experten und Expertinnen besetzt ist, Vorschläge für Reformen macht.

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Für mich ist zentral, dass das Komitee gegen Belästigung im Parlament in Zukunft durch unabhängige Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner besetzt ist. Ich habe großen Respekt vor den Abgeordneten, die aktuell in diesem Komitee sitzen, aber sie sind auch Teil von Fraktionen, von Ausschüssen, sie arbeiten eng mit ihren Kolleginnen und Kollegen zusammen. Da ist es nicht möglich, unbefangen zu sein.

Sie haben einmal gesagt: Jede Frau kenne einen oder zwei Männer, die gefährlich sind. Stimmt das?

Ja, das ist meine Erfahrung. Damit meine ich aber nicht speziell das Europaparlament.

Aber es gibt auch im Europaparlament Männer, von denen sie als Frau wissen, man muss vorsichtig sein?

Ja.

Auf vox.com wurde vor einiger Zeit ein Warnsystem beschrieben. Frauen würden sich darauf hinweisen, bei wem man vorsichtig sein müsse. Gibt es so etwas im Europaparlament unter Frauen auch?

Natürlich. Ich kenne keine Organisation, keinen Ort, keinen Zusammenschluss von Frauen und Männern, wo es so etwas nicht gibt.

Wie funktionieren diese Warnungen?

Man redet in geschützten Räumen. Und probiert, sich gegenseitig zu unterstützen so gut es geht. Was aber nicht heißt, dass man beginnt, wild über Namen zu spekulieren. Das halte ich auch nicht für zielführend.

Was ist zielführend?

Wir brauchen dringend organisierte Strukturen, die Betroffene unterstützen, ihr Schweigen zu brechen. Auch, weil sie Konsequenzen für Täter haben. Ganz wichtig ist: Wir müssen dafür sorgen, dass nicht vor allem Männer in Machtpositionen kommen und Frauen ihre Zuarbeiterinnen sind. Ohne eine Änderung der Machtverhältnisse wird man Missbrauch nie effektiv bekämpfen.

Ist es zielführend, wenn Namen öffentlich genannt werden, wie jetzt der des Regisseurs Dieter Wedel, dem mehrere Schauspielerinnen offen Übergriffe vorwerfen?

Zunächst einmal ist es ein mutiger Schritt der Frauen, die mit ihren sehr persönlichen Erfahrungen jetzt an die Öffentlichkeit gegangen sind. Wichtig ist, dass sie die notwenige Unterstützung erhalten. Wenn Frauen öffentlich über ihre Erfahrungen sprechen, kann das einen wichtigen Beitrag dazu leisten, den Druck zu erhöhen, dass sich endlich etwas ändert.

Die #MeToo-Debatte beschäftigt die Öffentlichkeit schon erstaunlich lange. Eine Prognose fürs noch junge Jahr: Bleibt das so oder verschwindet sie doch wieder?

Wenn wir die Probleme nicht immer wieder thematisieren, können alle Fortschritte zurückgedrängt werden. Aber angesichts der Wucht der Debatte haben wir gerade die Chance, nachhaltig etwas zu verändern. Wir haben das Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Jetzt wartet die eigentliche Arbeit. Der Druck darf nicht nachlassen.

Weiterführender Link:
- Bericht im Magazin "Time" über "Silence Breaker"

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