Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Studie zur EU-Wahl Diese Krisen teilen Europa in fünf "Stämme"
Das Ergebnis der anstehenden EU-Wahl könnte schwieriger zu prognostizieren sein als zuvor. Laut einer Studie sind die Europäer in fünf "Krisenstämme" gespalten.
Im Juni stehen die Wahlen zum Europaparlament an – und Prognosen zur Wählerpräferenz in den EU-Staaten könnten deutlich schwieriger aufzustellen sein als in den vergangenen Jahrzehnten. Das legt eine neue Studie der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) nahe.
Wie die Studienautoren herausgefunden haben, ist Europa längst nicht mehr nur in eine politische Linke und Rechte gespalten. In den vergangenen Jahren hätten sich vielmehr fünf "Krisenstämme" unter den Europäern herausgebildet. Denn der Kontinent habe in den vergangenen 15 Jahren fünf schwere Krisen erlebt: die Klimakrise, die Weltwirtschaftskrise, die Migrationskrise, die Corona-Pandemie und den Krieg in der Ukraine.
Die fünf Krisen "waren in ganz Europa zu spüren"
Und diese fünf Krisen hätten eines gemeinsam, schreiben die Autoren: "Sie waren in ganz Europa zu spüren, wenn auch in unterschiedlicher Intensität; sie wurden von vielen Europäern als existenzielle Bedrohung empfunden; sie hatten dramatische Auswirkungen auf die Regierungspolitik; und sie sind noch lange nicht vorbei."
Für die Studie hat das ECFR Menschen in den EU-Staaten Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Italien, Polen, Portugal, Rumänien, Spanien und Ungarn befragt. Außerdem nahmen Bürger Großbritanniens und der Schweiz – also Nicht-EU-Staaten – an der Umfrage teil.
Dabei wurde unter anderem folgende Frage gestellt: "Welche der folgenden Probleme hat über das letzte Jahrzehnt hinweg am meisten ihre Sicht auf die Zukunft verändert?" In den neun EU-Staaten, die insgesamt rund 75 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, stellt sich die Aufteilung der fünf "Krisenstämme" wie folgt dar:
- Corona-Pandemie: 73,7 Millionen Menschen
- Klimawandel: 73,6 Millionen Menschen
- Weltwirtschaftskrise: 70,9 Millionen Menschen
- Migration: 58 Millionen Menschen
- Russlands Angriffskrieg die Ukraine: 49,6 Millionen Menschen
- Andere Krisen oder Unentschlossene: 46,5 Millionen Menschen
Deutschland ist der Ausreißer der Studie
Deutschland ist dabei das einzige Land, in dem die Menschen die Migrationskrise als das Problem ansehen, dass sie am meisten betrifft. In Dänemark und Frankreich hingegen besorgt die Menschen am ehesten die Klimakrise. Italiener und Portugiesen sehen in der Weltwirtschaftskrise das dringendste Problem. In Spanien und Rumänien prägte die Bevölkerung vor allem die Corona-Pandemie. Und die Polen und Esten bewerten den Ukraine-Krieg als die Krise, die die größte Transformation nach sich zog.
Laut den Studienautoren haben sich vor allem durch diese fünf Krisen in den EU-Ländern "politische Identitäten" herausgebildet. Dennoch prognostizieren sie, dass nur zwei der Krisen direkten Einfluss auf die Wahlen haben werden. Weder die Corona-Pandemie noch die Wirtschaft oder der Krieg in der Ukraine würden nun Wähler mobilisieren. "Die Klima- und die Migrationskrise beherrschen die Schlagzeilen und werden das Wahlverhalten der Menschen besonders stark beeinflussen", lautet die Einschätzung des ECFR.
Kommt es zum Aufeinandertreffen der "Aussterbe-Rebellen"?
Ein Indiz dafür sehen die Studienautoren in der Parlamentswahl in den Niederlanden im vergangenen November. Damals hatte die migrationskritische und rechtspopulistische "Partei für die Freiheit" von Geert Wilders gewonnen. An zweiter Stelle wählten die Niederländer das links-grüne Wahlbündnis des ehemaligen EU-Klimaschutzkommissars Frans Timmermans. Mehr dazu lesen Sie hier.
Laut der Studie könnte es nun zu einem Aufeinandertreffen von "Aussterbe-Rebellen" (englisch: "extinction rebellions") kommen. "Während die Klimaaktivisten die Auslöschung menschlichen und anderen Lebens fürchten, fürchten die Migrationsgegner das Verschwinden ihrer Nationen und ihrer kulturellen Identität", erklären die Autoren.
Die Wahl zum Europäischen Parlament findet vom 6. bis 9. Juni statt. Sie wird auch Grundlage für die danach anstehende Entscheidung über die Zusammensetzung der kommenden EU-Kommission sein. Der nächste Kommissionspräsident oder die nächste Kommissionspräsidentin wird von den Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat vorgeschlagen. Die Person muss dann aber noch vom Parlament gewählt werden. Nach Umfragen gilt es derzeit als wahrscheinlich, dass die christdemokratische EVP bei den Wahlen erneut stärkste politische Kraft wird.
- ecfr.eu: "A crisis of one’s own: The politics of trauma in Europe’s election year" (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa