Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kolumne "Lust, Laster und Liebe" "In meiner Freizeit trage ich Windeln"
"Möchtest du gestillt werden?" oder "Mach brav ein Bäuerchen." – Nein, das sind keine Gespräche zwischen Eltern und Kindern. Sondern zwischen Erwachsenen, die sich durch Rollenspiele ihre sexuellen Wünsche erfüllen.
Beim Thema Sexualität halte ich mich eigentlich für durchaus tolerant. Solange dabei niemand zu Schaden kommt und das gegenseitige Einverständnis klar vorhanden ist – nur zu! Ich muss aber zugeben: Es gibt ein paar Dinge, bei denen ich persönlich einfach nur raus bin: Frauen, die ihre Partner stillen? Oder Männer, die mit Windeln rumlaufen, gewickelt werden und dadurch heiß laufen? Mag sein, dass dies engstirnig wirken könnte. Aber ich bin immer davon ausgegangen, dass die meisten Eltern schlicht erleichtert sind, wenn das Stillen, Wickeln und ständige Aufpassen auf die eigenen Kleinen endlich vorbei sind.
Klar, mit zunehmender Eigenständigkeit schwindet auch das Gefühl, gebraucht zu werden. Doch ein wenig Erleichterung und mehr Freiheit gehen damit schon einher. Und wenn der Knirps schon größer ist und all die Elternpflichten im Notfall nicht mehr "mal eben schnell" erledigt werden können, stelle ich mir das doch auch anstrengender vor. Wie ist es dann erst, wenn es sich um einen Erwachsenen handelt? "Nicht immer leicht", sagten mir zwei Mütter, deren erwachsene Kinder aufgrund von Krankheiten eine derart intensive Pflege und Fürsorge benötigen.
Aber zurück zu jenen Erwachsenen, die es im wahrsten Sinne des Wortes lieben, gepampert zu werden.
Was steckt hinter dem Fetisch?
Also versuchen wir die ganze Windel-Geschichte doch mal aufzudröseln – ohne Gewähr, selbstverständlich: Experten ordnen die Vorliebe als einen Fetisch ein mit der Bezeichnung "Adult Baby Diaper Lover" (ABDL oder auch Autonepiophilie). Zu Deutsch heißt das "adultes Babysyndrom".
Was wir auch alle wissen: Bei den meisten lösen Babys einen starken Fürsorgeinstinkt aus: "Jemand braucht meine Hilfe, Fürsorge, Unterstützung und ist von mir abhängig." Babys werden umsorgt, bemuttert. Die Befriedigung ihrer Urbedürfnisse ist entscheidend.
Und ja, seien wir ehrlich – auch im Erwachsenenalter genießen wir es natürlich, betüddelt und umsorgt zu werden – und das nicht nur, wenn es uns schlecht geht. Stellen Sie sich vor: Jemand liest Ihr kleinstes Augenzucken richtig und stellt Ihnen zügig und mit Hingabe exakt das vor die Nase, woran Sie eben gedacht haben! Was für ein Traum! Gleichzeitig ist es auch ein herzerwärmendes Gefühl, einen geliebten Menschen zu umsorgen, für kleine Aufmerksamkeiten so viel Liebe und Freude zurückzubekommen, kurzum: für jemanden gefühlt unersetzbar zu sein.
Feeder, Natursekt und Naturkaviar
Was bedeutet das in Bezug auf den Wunsch, gefüttert zu werden? Wenn es darum geht, dass Erwachsene sich stillen lassen, weil es sie anmacht, kann ich ein Argument nachvollziehen: Der Busen ist nun mal erotisch und erogen. Und auch beim Füttern gibt es ja wieder das Abhängigkeits-Fürsorge-Verhältnis – allerdings ist es dann doch etwas anders, wenn man Babybrei und Co. verfüttert. Da denke ich nur an die Mehrarbeit beim Aufwischen, weil das Kleine nicht essen will. Insofern würde ich dann doch eher das Ablecken von Sahne, Schokosoße und anderen bei der Durchschnittsbevölkerung beliebten Leckereien bevorzugen. Vom Körper und nicht vom Küchenboden.
Wie sieht's mit dem Windelwechseln aus? "Natursekt"- (Urin, als Fetisch Urophilie) oder "Naturkaviar"-Spiele (Kot, als Fetisch Koprophilie) sind in der BDSM-Szene (Exkrementophilie) alles andere als unbekannt. Dabei spielen für viele Masochismus und Sadismus eine wichtige Rolle. Und jeder, der schon einmal ein größeres Kleinkind oder eine pflegebedürftige Person gewickelt hat, weiß: Das ist eine Herausforderung aller Sinne und des ganzen Körpers.
Aber es geht natürlich auch ohne Urin und Kot: In einem Interview erklärte ein Windelträger, dass es ihm nicht um die Exkremente, sondern vielmehr um die Hilflosigkeit gehe, die er bei seinem Rollenspiel erlebe. Das zeigt: Beweggründe und Bedürfnisse gibt es wohl einfach so viele, wie es Menschen auf der Welt gibt.
Sind ABDL pädophil?
Auch wenn ABDL ein sexuelles Rollenspiel mit verschiedenen Fetischen auch aus dem BDSM-Bereich ist, bleibt für mich ein fader Beigeschmack: Warum muss hier das Kind oder Baby in sexuellem Kontext mit dem Erwachsenen stehen? Da schrillen bei mir die Alarmglocken. Sind die Fetischisten vielleicht pädophil? Sowohl ABDL als auch Therapeuten verneinen das. Es gehe den Fetischisten nicht um den Altersunterschied, die Schutzbedürftigkeit und das Verbotene. Sondern um die Szenerie, die Windeln, das Stillen, die Accessoires. Es geht also um das Rollenspiel – um eine herbere Version des Krankenschwester-Patient-Rollenspiels. Und das ist in unserer Gesellschaft – wenn auch nur hinter geschlossenen Türen oder zu Karneval – fraglos bei einigen beliebt.
Warum Influencer, YouTuber oder vormals eher unbekannte Personen stets für enorme Aufregung sorgen, sobald sie über das Thema reden? Vielleicht aus Neugierde? Oder aus Interesse? Vielleicht ist es einfach auch insgeheim die Faszination und der Gedanke "als Baby hatte man keine Sorgen und jemanden, der sich um einen gekümmert hat". Wer weiß. Vorschnell urteilen bringt hier sicher nichts. Zu versuchen, hinter die Fassade zu blicken, wenn jemand sich öffnet und einen Einblick in seine sexuelle Welt gibt, finde ich persönlich jedenfalls reizvoller.
Jennifer Buchholz, Redakteurin bei t-online, schreibt in ihrer Kolumne "Lust, Laster, Liebe" über Liebe, Partnerschaft und Sex.