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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Nach wie vor ein Tabuthema Wenn Männer Opfer häuslicher Gewalt werden
Ist von häuslicher Gewalt die Rede, dann sind meist Männer die Täter und Frauen die Opfer. Doch dieser Fall schildert, wie es ist, wenn die Rollen vertauscht sind. Dass Frauen gegenüber Männern gewalttätig sind, ist immer noch ein Tabuthema. Hilfsangebote für betroffene Männer sind rar, das Rollenbild vom "starken Mann" steht im Weg.
Die Katastrophe im Leben von Andreas* geschieht an einem Sonntag im Oktober 2014. Im eigenen Haus im Norden von Rheinland-Pfalz nähert sich seine Frau von hinten, benebelt ihn mit Pfefferspray, dann sticht sie mehrmals mit einem Messer zu.
Er dreht sich um, von Angesicht zu Angesicht ein weiterer Stich. Als der vom Sohn des Paares alarmierte Notarzt vor der Tür steht, folgt ein Stich in die Lunge.
Tat aus Eifersucht
"Wenn ich dich nicht bekomme, kriegt dich keine", habe sie ihm gesagt, erzählt Andreas. Es folgen Tage im künstlichen Koma, ein Prozess, bei dem die Frau im Jahr 2015 wegen versuchten Mordes zu zehn Jahren Haft verurteilt wird und die Aufarbeitung des Unfassbaren.
Dies sei einer der heftigsten ihm bekannten Fälle, sagt Hanno Kneib, Ehrenamtlicher bei der Opferschutz-Organisation Weißer Ring in der Region. Es sei beachtlich, wie Andreas die Kurve bekommen habe und nach einem Umzug mit den Kindern und neuer Freundin wieder nach vorne blicken könne.
Rückkehr in ein normales Leben
"Ohne fremde Hilfe hätte ich mir das nicht vorstellen können", sagt Andreas selbst. Er habe seinerzeit gar nicht gewusst, wo er Unterstützung bekommen kann. Der Weiße Ring sei auf ihn zugekommen, habe finanzielle Hilfe und Gespräche angeboten.
Männer, die Opfer von häuslicher oder andersartiger Gewalt geworden sind, suchen sich selten selbst Hilfe. Für Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des Weißen Rings, liegt das am Rollenbild des Mannes, der stark sei, sich immer und überall wehren könne und keine Unterstützung brauche.
Das Stigma des "schwachen Mannes"
Dieses Bild sei noch immer tief in der Gesellschaft verankert. Opfer selbst griffen darauf zurück. "Dann sorgen Scham und Angst dafür, dass darauf verzichtet wird, sich dringend benötigte Hilfe zu holen", sagt Biwer. Das Umfeld der Betroffenen wiederum höre nicht richtig zu, bagatellisiere oder reduziere das Opfer im schlimmsten Fall zum "schwachen Mann".
Der Weiße Ring hat Gewalt gegen Männer zum Schwerpunktthema seines diesjährigen Opferforums gemacht. "Das Thema ist immer noch mit einem gesellschaftlichen Tabu belegt, was viele männliche Opfer davon abhält, sich Hilfe zu holen", betonte dabei auch die Bundesvorsitzende Roswitha Müller-Piepenkötter.
Eskalation nach 20 Jahren Beziehung
Dabei ist es nach traumatischen Erlebnissen extrem wichtig, sich zu öffnen. Das weiß auch Andreas. Er sagt: "Man muss reden, darf sich nicht verstecken." Nie habe er damit gerechnet, dass seine Frau, mit der er 20 Jahre zusammen und 16 Jahre verheiratet gewesen sei, zu solch einer Tat fähig sei – trotz Problemen in der Beziehung.
Sie habe Affären gehabt, er die Ehe lange zu retten versucht, später an einer sauberen Trennung gearbeitet – und dann das. Was folgte waren der Gerichtsprozess, in dem er seiner Frau gegenüber gesessen habe, finanzielle Probleme als nun alleinerziehender Vater, Sorgen um die zwei Kinder und Vorwürfe der Schwiegereltern. "Ich habe mich nicht fallen gelassen, aber ich stand ein paar Mal kurz davor", sagt er.
Kaum Hilfsangebote für betroffene Männer
Diesen schmalen Grat bei tiefen Lebenskrisen aller Art kennen auch Michael Schwarz und Jean van Koeverden, die sich ehrenamtlich bei der Mainzer Männerinitiative engagieren. Sie monieren, es gebe zu wenig Hilfsangebote für Männer, kaum Vernetzung deutschlandweit. In Mainz existiere ein Frauenbüro und ein Frauencafé, sagt Schwarz. "Aber dasselbe müsste es auch für Männer geben." Manchmal brauche es ein Gespräch von Mann zu Mann. Es sei kaum vorstellbar, dass ein von einer Frau geschlagener Mann dies einer anderen Frau schildere.
Ohnehin seien Männer in Not schwer zu erreichen, betont Schwarz. Gleich, ob sie Gewaltopfer seien, in einer Beziehungskrise stünden oder Neues im Leben suchten. "Ihr Selbstbild ist erschüttert." Manche würden "Schlappschwänze" genannt und fühlten sich auch so. Andere zwängten sich in die Rolle des "starken Mannes", ließen ihre weiche Seite nicht zu.
Aus einem Kratzer wird ein riesiger Riss
"Männer warten, bis ein Kratzer zu einem Riesenriss wird." Viele trügen einen Panzer mit sich rum. Diesen Panzer aufzulösen, gelinge in Männergruppen, die weder Stammtisch noch Therapieersatz seien. Van Koeverden drückt es so aus: "Männer wollen so sehr Mann sein, den Starken spielen, dass sie sich selbst verleugnen."
Schwarz und van Koeverden sehen es als Aufgabe von Jahrzehnten an, ein effektives und ausreichendes Hilfsnetz für Männer aufzubauen, das gesellschaftlich akzeptiert wird. Dabei ist das Thema nicht neu, wie eine Studie von 2004 im Auftrag des Bundesfamilienministeriums zeigt. Darin heißt es, Männern widerfahrene Gewalt werde von ihnen und oder ihrer Umwelt nicht als solche wahrgenommen, Hilfsangebote fehlten.
Opferzahlen viel höher als die Zahl der Hilfesuchenden
Dabei leiden viele Männer unter Kriminalität. Der bundesweiten Polizeilichen Kriminalstatistik für 2014 zufolge waren von 548.848 Opfern vollendeter Körperverletzungsdelikte 61,9 Prozent Männer. Gleichzeitig waren von knapp 8800 Gewaltopfern, die bundesweit im vergangenen Jahr materielle Hilfe vom Weißen Ring bekamen, nur rund 1900 Männer.
Andreas ist einer von ihnen. Zum Glück, wie er selbst sagt. Seine körperlichen Wunden sind mittlerweile verheilt, die seelischen nicht. Hätte er seine jetzige Freundin nicht vor der Bluttat kennengelernt, er wäre wohl nicht mehr zu einer neuen Beziehung fähig gewesen, sagt er. "Man wird es nie vergessen. Aber man lernt, damit umzugehen."
*Name geändert.