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KI: Betrug in der Schule – Bestnote, ohne Goethe gelesen zu haben


Meinung
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MeinungEine Kolumne von Bob Blume

Aktualisiert am 16.05.2024Lesedauer: 5 Min.
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Denkmal in Weimar: Goethe und Schiller gelten als die wichtigsten Dichter Deutschlands. (Quelle: IMAGO/Jürgen Ritter/imago)

Ein Abiturient erreicht mit seiner Arbeit über Goethes "Faust" die Bestnote – ohne auch nur eine Zeile davon gelesen zu haben. KI hat es möglich gemacht. Der Jubel darüber sollte uns zu denken geben.

In einem Beitrag der NZZ erklärt ein Schweizer Maturand – wie dort Abiturienten so schön heißen – stolz, dass er keines der Bücher für den Abschluss gelesen hat und stattdessen die Künstliche Intelligenz von ChatGPT als Lernpartner genutzt hat. Mit ihrem Jubel für diesen Betrug klatscht die digitale Szene einem selbstverschuldeten Kulturverfall Beifall.

Bevor sich Leser, die meine Texte häufiger lesen, nun wundern, weil ich hier einen nachdenklichen, mitunter wütenden, vor allem aber geradezu kulturpessimistischen Ton anschlage, muss ich mich outen: Ich bin als Germanist Goethes "Faust", und zwar beiden Teilen der epochalen Tragödie, tief verbunden. Ich schrieb ein Plädoyer dafür, dass er in den Bildungsplänen erhalten bleibt, und drehte mit einem Freund während der Corona-Pandemie zu jeder Szene ein einstündiges Video.

Und ich halte das Drama immer noch für lesenswert und für jeden, der sich bemüht, bereichernd. Nicht aus Nostalgie oder aus Lust an einem normierten Zwang, sondern weil ich tatsächlich der Auffassung bin, dass der wohl bekannteste deutsche Dichter in seinem Werk fundamentale Fragen des Lebens in einer Weise betrachtete, die es wert macht, sich anzustrengen. Oder wie es eben im Faust heißt: "Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen."

Bob Blume ist Lehrer und Autor.
Bob Blume ist Lehrer und Autor. (Quelle: privat)

Zur Person

Bob Blume ist Lehrer, Blogger und Podcaster. Er schreibt Bücher zur Bildung im 21. Jahrhundert und macht in den sozialen Medien auf Bildungsthemen aufmerksam (wie hier auf Instagram). In seiner Kolumne für t-online kommentiert er aktuelle Bildungsthemen mit spitzer Feder. Auf Instagram und X folgen ihm mehr als 100.000 Menschen. Sein Buch "10 Dinge, die ich an der Schule hasse" ist im Handel erhältlich.

Denn anstrengen muss man sich in der Tat, schon beim ersten Teil, der mit dem Teufelspakt, der Wette und der Gretchentragödie durchaus Stoff für Action bietet. Nicht umsonst erklärt die Figur des Direktors vor dem eigentlichen Stück: "Besonders aber laßt genug geschehen!" Es soll also viel passieren. Die Figur des Dichters hält übrigens dagegen, er propagiert: Idealismus statt Belustigung. Aber das sei nur am Rande erwähnt.

Im zweiten Teil, an dem Goethe sein ganzes Leben gearbeitet hat und der sich dem flüchtigen Zugang verschließt, öffnet sich ein weites Panorama aus Themen wie dem Kapitalismus, der Machtverteilung und sogar des künstlichen Lebens. Dem durch den Magister Wagner ins Leben gebrachten Wesen Homunculus, das nur in der Phiole leben kann, kann durchaus die Idee der Künstlichen Intelligenz zugeschrieben werden. Homunculus ist in der Lage zu sprechen, ist aber eben nicht physisch in der Welt.

Um solche Bezüge herauszuarbeiten, muss man mehr getan haben, als ChatGPT mit Lektüren zu füttern und einen kongenialen Lernpartner zu erstellen, der einen zu Bestnoten führt. Man muss, wenn man dies denn will, den Text lesen, nachdenken, sich mit anderen, die dies ebenso getan haben, austauschen und so im besten Fall seinen Horizont erweitern.

KI ist ein Werkzeug

Dass Schüler jene Werkzeuge nutzen, die ihnen zur Verfügung stehen, ist nichts Neues. Dies zu verteufeln, wäre verkürzt, ja geradezu reaktionär. In einem System, das darauf ausgelegt ist, Endprodukte zu bewerten, ist der Betrug die effektivste Methode, das System mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Dies ist einer der Gründe, warum ich kurz nach Erscheinen von ChatGPT einen Artikel schrieb, in dem ich die aus meiner Sicht wichtigste Frage für das gesamte Bildungssystem im 21. Jahrhundert stellte. Ich formuliere diese etwas verkürzt: Wie kann Lernen zu einem so sinnstiftenden Prozess werden, dass Schüler es als für sich relevant beurteilen?

Nicht nur das Gefühl eines Hochstaplers

Denn der Betrug, von dem ich gerade gesprochen habe, betrifft nicht die Prüfung oder ein System, das es erlaubt, derart getäuscht zu werden. Natürlich, das auch. Das weiß aber auch der junge Mann, wenn er sagt: "Ich hatte kein Erfolgsgefühl, als ich mein Zeugnis in den Händen hielt." Ein wenig, so schreibt die NZZ, sei er sich wie ein Hochstapler vorgekommen. Und es sei "schon ein bisschen beschissen", dass das Lesen verloren gehe.

Zunächst einmal muss man den jungen Mann aber beruhigen: Er muss sich nicht vorkommen wie ein Hochstapler. Er ist schlicht einer. Um das zu verstehen, muss man nicht mal Thomas Manns "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" gelesen haben. Die Pointe ist aber zweigeteilt: Der Betrug findet an sich selbst statt, der Hochstapler profitiert also nicht von seinem Betrug.

Sinnlichkeit geht verloren

Und genau das scheint noch nicht überall angekommen zu sein. Im Gegenteil. In der digitalen Bubble klatschen die scheinbar progressiven Kräfte dem Jungen Applaus. Sogar von Zukunftskompetenzen ist die Rede. Wirklich? Ja, ich verstehe schon: Gemeint ist die Fähigkeit, einen Prompt, also einen Befehl an die KI, so zu schreiben, dass am Ende valide Stückchen herauskommen, mit denen man so präzise bescheißen kann, dass eine schöne Note herauskommt. Das ist schon bewundernswert. Und ganz davon abgesehen gibt es in der Tat viele vorstellbare Szenarien, in denen diese Fähigkeiten dabei helfen können, dass man besser, effizienter und erfolgreicher lernt.

Aber wollen wir in einer kulturlosen Gesellschaft leben, in der die letzten Stücke von Jahrhunderte lang besprochener Volksliteratur in generative Häppchen aufgeteilt werden? Ist das diese "Zukunftskompetenz", von der immer wieder zu lesen ist?


  • Auch interessant: Bob Blume und t-online-Chefredakteur Florian Harms im Podcast:
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Oder ist es nicht vielmehr die Fähigkeit, sich zu bemühen, nach und nach mehr zu verstehen? Zu genießen, zu diskutieren, auszulegen, zu kritisieren und sich im Lernen weiterzuentwickeln? Es sind rhetorische Fragen. Nicht jeder muss den "Faust" gelesen haben, aber es wäre schön, wenn wir uns noch weiterhin über Kultur, Literatur und Musik unterhalten könnten, ohne einen digitalen Hauselfen in der Tasche zu haben. Ohne die Auffassung, alles müsste eine effiziente, durchgetaktete Geradlinigkeit besitzen. Und ein Ziel, dessen höchster Grad die Nützlichkeit ist.

Neubewertung von KI im Unterricht

Wer nun denkt, aus meinen Ausführungen ließe sich eine Ablehnung von KI im Unterricht ableiten, liegt genauso falsch wie jene, die eine unfaire Beurteilung des jungen Mannes sehen. Ein Hochstapler, ja. Aber ein Hochstapler in einem System, das die Hochstapelei belohnt. Stattdessen sollte KI im Unterricht genutzt werden, um deutlich zu machen, wo es nützt und wo man sich selbst täuscht. Das bedeutet, dass es Zeit ist, sich über alternative Prüfungsformate Gedanken zu machen. Zeit auch, sich über den Unsinn von Bewertungen Gedanken zu machen. Und es bedeutet, dass Schulen sich fragen müssen, wie sie Kulturzugänge schaffen, die als wertvoll, sinnvoll und relevant wahrgenommen werden.

Denn wenn jemand den Sinn von etwas versteht und dass es ihn oder sie persönlich weiterbringt, dann betrügt er sich nicht selbst, egal wie effizient das möglich ist. Entweder Schulen schaffen dies oder sie schaffen sich selbst ab, weil es keinen Grund mehr gibt, nicht zum Betrüger zu werden. Vielleicht liegt darin die mächtige Kraft von KI, als "Teil von jener Kraft,/ Die stets das Böse will und stets das Gute schafft ..."

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