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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Thomas Rauschenbach im Interview "In der Familie vollziehen sich die bedeutungsvollsten Bildungsprozesse"
Für die meisten Menschen ist die Schule der wichtigste Bildungsort überhaupt. Sie soll Kindern das nötige Wissen vermitteln, um eine Ausbildung oder ein Studium erfolgreich zu absolvieren. Warum Bildung aber weit mehr ist, als Rechnen, Schreiben und Lesen und schon lange vor dem Grundschulalter beginnt, erläutert der Direktor des Deutschen Jugendinstituts, Thomas Rauschenbach, gegenüber der Elternredaktion von T-Online.de.
T-Online.de: Als "Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen". So definierte vor gut zweihundert Jahren Wilhelm von Humboldt den Begriff "Bildung". Inwieweit folgt das deutsche Bildungssystem heute noch diesem Ideal?
Thomas Rauschenbach: Der Humboldtsche Bildungsbegriff hat noch immer seine Berechtigung, weil er uns ermahnt, Bildung nicht zu eng wissensbasiert zu fassen, sondern sie auch mit der Persönlichkeitsentwicklung zu verknüpfen. Mir erscheint es angemessen, dieses hohe Ideal am Alltag der deutschen Schulen zu überprüfen. Und da können einem durchaus Zweifel kommen, ob es dort tatsächlich in hohem Maß um Individualität und Persönlichkeitsbildung geht.
Wie definieren Sie den Begriff "Bildung"?
Bildung ist kein Selbstzweck, Bildung kann Menschen befähigen, mit allen Sinnen Subjekt ihres eigenen Handelns zu werden. Das aber heißt: Es geht allenfalls vordergründig um Zertifikate und Abschlüsse; vielmehr soll Bildung Heranwachsenden so etwas wie die Befähigung zu einer eigenständigen Lebensführung vermitteln, sowohl in kognitiver und emotionaler als auch in sozialer und praktischer Hinsicht. Ganz unpädagogisch könnte man vereinfacht sagen, Bildung ist nichts anderes als die ständige Entwicklung und Verbesserung der individuellen Handlungsfähigkeit.
Wo findet Bildung eigentlich statt? Welche wichtigen "Bildungsorte" und "Lernwelten" gibt es außerhalb der Schule?
In den letzten Jahren hat die Forschung zumindest auf der begrifflichen Ebene für etwas Klarheit gesorgt. Wir begreifen Schule als Ort der formalen Bildung; dort existiert ein klarer Kanon an Lehr- und Lernstoffen. Die andere Seite der Bildung findet sich im "informellen Lernen". Dies ist das implizite, das ungeplante, "wilde" Lernen, das in der Familie, in der Peergroup oder, etwas allgemeiner, im Alltag erfolgt. Und irgendwo dazwischen finden sich die Settings des "non-formalen Lernens", etwa in der außerschulischen Bildungsarbeit, in der kulturellen Bildung oder in den Freiwilligendiensten. Dort existiert zwar ein organisatorischer Rahmen, doch die Beteiligung ist freiwillig.
Welche Rolle spielt die Familie beziehungsweise die Eltern bei der Bildung ihrer Kinder?
Eine außerordentlich große. Familien sind das wichtigste Soziotop, in dem sich Bildungsprozesse vollziehen, insbesondere in den ersten Lebensjahren. Auch wenn die Kindertageseinrichtungen zunehmend an Bedeutung gewinnen, machen Kinder vor der Einschulung weiterhin die wichtigsten Lernerfahrungen in ihren Familien. Das gilt für fast alles: Es beginnt beim Aufbau einer emotionalen Bindung oder beim Spracherwerb, geht über das Erlernen von vielen sozialen Verhaltensweisen bis hin zu vielen lebenspraktischen Dingen. Zwar ist die Familie die Instanz, deren Bildungserfolg am schwierigsten messbar ist - trotzdem ist sie die bedeutungsvollste.
"Wenn ein Kind in die Schule kommt, ist die meiste Bildung schon gelaufen- da sind die Weichen schon gestellt.". So wurden Sie in einem Artikel der Bertelsmann-Stiftung zitiert. Können Sie das näher erklären?
Lange Zeit hat man geglaubt, dass kleine Kinder so ähnlich wie Pflanzen "reifen" würden. Am Beispiel der Babys wird das besonders deutlich: Sie bräuchten, so die Annahme, in den ersten Lebensmonaten vor allem Nahrung, saubere Windeln, frische Luft und ausreichend Schlaf. Inzwischen hat die Säuglingsforschung gezeigt, wie viele Lernprozesse bereits in diesem Alter ablaufen. Wenn man dann Sechsjährige bei der Einschulung beobachtet, ahnt man, was diese Kinder schon alles gelernt haben. Sie haben bereits eine bestimmte Art entwickelt, sich der Welt zu nähern - neugierig oder vorsichtig, skeptisch oder von der eigenen Wirksamkeit überzeugt. Sie können Enttäuschungen mehr oder weniger gut aushalten; sie verstehen Zusammenhänge schneller oder vielleicht langsamer. All das ist zwar nicht deterministisch für ein ganzes Menschenleben, aber trotzdem in hohem Maß weichenstellend für die weitere Bildungsbiografie.
Was bedeuten diese Erkenntnisse für die frühkindliche Bildung in Kindergärten? Müsste die frühkindliche Bildung viel mehr gefördert und wertgeschätzt werden als bisher?
Es gibt schon steigende Aufmerksamkeit für die frühe Bildung. Einen Hinweis darauf geben etwa die Bildungspläne für die Kitas, die inzwischen in allen Bundesländern existieren. Auch begreifen sich Erzieherinnen heute weit mehr als Fachkräfte für frühkindliche Bildung. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle Probleme bereits gelöst wären. So nimmt die Öffentlichkeit die Kitas inzwischen zwar stärker als Bildungseinrichtungen wahr, dies hat jedoch noch nicht zu einem Anstieg hochschulausgebildeter Fachkräfte oder zu steigenden Gehältern des Personals geführt.
Was raten Sie ambitionierten Eltern, die schon bei Kindergartenkindern auf Wissensförderung zum Beispiel in Form von Englischkursen für Dreijährige setzen? Wie sinnvoll ist das?
Mit letzter Gewissheit lässt sich das nicht beantworten. Aber ich würde solchen Eltern zu etwas Entspannung raten. Kinder entdecken in den ersten Lebensjahren ihre Welt zuallererst selbst, nutzen all das, auf was sie in ihrem Alltag stoßen - also sind gut dosierte Anregungen diesbezüglich sehr wünschenswert. Allerdings: Schulnahe Kurse machen da ebenso wenig Sinn wie fächerorientiertes Lernen. Bisweilen habe ich den Eindruck, dass Eltern diesbezüglich ihre Kinder eher überfördern als unterfordern.
Wie steht es um das Lernen beziehungsweise die Bildung in der Schule? Setzt unser häufig gescholtenes Schulsystem falsche Akzente?
Ich warne vor pauschalen Urteilen: Die Schulen sind in Deutschland längst nicht mehr so einheitlich wie vielleicht vor fünfzig Jahren. Neben Schulen mit sehr engagierten, offenen Konzepten und Teams existieren Schulen, in denen man weiterhin die Enge der traditionellen Unterrichtsschule spürt - viele Regeln, hoher Druck, wenig Kreativität und wenig Individualität. Daher sollten wir uns an den Schulen orientieren, die sich auf den Weg gemacht haben und Vorbild für andere sein können.
Inwieweit könnte sich schulisches Lernen verändern, wenn die Ganztagschule in Deutschland flächendeckend eingeführt würde? Wie sollte das ideale Bildungskonzept aussehen, damit die Ganztagsschule tatsächlich die Schule der Zukunft wird?
Die Ganztagsschule bietet viele Gelegenheiten, das Spektrum des Lernens jenseits des Unterrichts zu erweitern. Sie kann sich öffnen für die außerschulische Jugendarbeit mit ihren spezifischen Lernarrangements; sie kann mehr Beteiligung der Schüler und auch der Eltern ermöglichen. Aber dafür genügt es eben nicht, an jeder Schule Mittagessen anzubieten oder Hausaufgabenbetreuung zu organisieren. Das mag der Anfang sein - aber es schöpft das Potenzial ganztägigen Lernens bei weitem nicht aus.
Warum ist es so wichtig, dass Kinder auch am Lernort Schule ohne starre Unterrichtsformen lernen können?
Kinder werden nur zu eigenen Persönlichkeiten, wenn sie sich selbst als eigenständig erfahren. Sie müssen sich die Welt selbst aneignen können, ihre Neigungen entdecken, müssen sich begeistern und in ihren eigenen Interessen "verlieren" können.
Was wünschen Sie sich von der Politik, wenn es um das Thema Bildung geht? Sollten andere Schwerpunkte gesetzt und neue Perspektiven eingenommen werden?
Mit Blick auf die Kitas würde ich sagen, dass die gestiegene Wertschätzung früher Bildung sich nun in einer Qualitätsoffensive niederschlagen sollte. Nötig wären Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen, also etwa bei den Personalschlüsseln; ebenso wichtig ist das Qualifikationsniveau des Personals und dessen Bezahlung. Hier ist überall noch Luft nach oben. Im Feld der Schule geht es um die Gestaltung eines "guten Ganztagsangebots". Mit anderen Worten: Wir sollten uns endlich darüber verständigen, was wir mit der Ganztagsschule eigentlich wollen und wie diese Ziele erreichbar sind. Einfach planlos weiter ausbauen ist zu wenig.
Das Interview führte Nicola Wilbrand-Donzelli