Für diesen Beitrag haben wir alle relevanten Fakten sorgfältig recherchiert. Eine Beeinflussung durch Dritte findet nicht statt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ausschulung "Unbeschulbar": Was geschieht mit diesen Fällen?
Obwohl in Deutschland die allgemeine Schulpflicht besteht, kommt es vor, dass Kinder, die dauerhaft verhaltensauffällig sind, den Unterricht "sprengen" oder oft unentschuldigt fehlen, vom Klassenverband ausgeschlossen werden. Doch was geschieht dann mit diesen Kindern? Das erklärt eine Pädagogin.
"Nichts geht mehr" - hieß es Anfang dieses Jahres bei einem Neunjährigen aus Südhessen. Der Grundschüler, der als normal intelligent eingeschätzt wird und eigentlich die dritte Klasse besuchen müsste, verweigerte sich wochenlang dem geregelten Unterricht, störte massiv oder wollte erst gar nicht das Schulgelände betreten. Versuche, durch einen Klassen- beziehungsweise Schulwechsel etwas an der Misere zu ändern, blieben ohne Erfolg. Im Mai verordneten die Behörden das Aussetzen der Beschulung. Stattdessen wurde Einzelunterricht erteilt und den Eltern geraten, einen Antrag auf sozialpädagogische Familienhilfe zu stellen, um den Ursachen der Probleme auf die Spur zu kommen.
"Ruhende Schulpflicht"
In den Medien wurde der Junge immer wieder als "unbeschulbar" bezeichnet - ein Terminus, den Pädagogin Wera Bleimehl nicht angemessen findet. Sie hat täglich in der staatlich anerkannten Förderschule für Erziehungshilfe "Schule am Geisberg" mit dem Hauptstandort in Wiesbaden und einer Nebenstelle in Darmstadt mit ähnlichen Fällen zu tun: "Der Ausdruck 'unbeschulbar' diskriminiert und erweckt den Eindruck, als seien Kinder für die Schule und nicht die Schule für die Kinder da. Korrekt ist es, hier von ruhender Schulpflicht zu sprechen", so die Förderlehrerin gegenüber der Elternredaktion von t-online.de.
Das sagt das Schulgesetz zur Ausschulung
Doch bis die Schulpflicht bei einem Schüler tatsächlich offiziell ausgesetzt wird, versuchen die verantwortlichen Pädagogen in Absprache mit den Eltern zunächst einmal, die Situation zu verbessern, indem das Kind zum Beispiel in eine andere Klasse oder auf eine andere Schule wechselt. Erst wenn diese Alternativen ausgeschöpft sind, kann als letzte Konsequenz das Ruhen der Schulpflicht in einer allgemeinbildenden Schule veranlasst werden. Die Schulleitung, eine Klassenkonferenz und die Schulaufsichtsbehörde müssen dieser Maßnahme zustimmen. Gegebenenfalls kann auch noch das Jugendamt hinzugezogen werden. So ist es in den Schulgesetzen aller Bundesländer geregelt.
Dort ist auch klar definiert, wann Schulen und Behörden zu diesem Schritt berechtigt sind. So heißt es etwa in Paragraf 53 des nordrhein-westfälischen Schulgesetzes, dass solche Maßnahmen nur zulässig sind, "wenn der Schüler durch schweres oder wiederholtes Fehlverhalten die Erfüllung der Aufgaben der Schule oder die Rechte anderer ernstlich gefährdet oder verletzt hat". Ähnliche Konsequenzen können aber auch häufige unentschuldigte Fehlzeiten nach sich ziehen.
Die Chance auf einen schulischen Neuanfang
Obwohl eine Ausschulung auf den ersten Blick wie eine Strafe und Ausgrenzung erscheinen mag, ist sie eigentlich der erste Schritt zu einem Neuanfang mit dem Ziel, betroffenen verhaltensauffälligen Schülern zu helfen, sich zu stabilisieren und sich langfristig wieder in ein normales Schuleben einzugliedern. Dies soll in der Regel durch spezielle Lernangebote im Rahmen von häuslichem Sonderunterricht oder in Förderschulen erreicht werden, die in Abstimmung mit den Vertretern des Schulamtes und unter Umständen auch mit Unterstützung des Jugendamtes initiiert werden. Solche Maßnahmen bietet auch die "Schule am Geisberg" an, die in Wiesbaden rund 160 und in Darmstadt 24 Schüler betreut, wo Wera Bleimehl seit etwa sieben Jahren unterrichtet.
Ausgeschulte Schüler kommen aus allen sozialen Schichten
Meist sind ihre Schüler zwischen elf und 17 Jahre alt, zwei Drittel davon Jungs, ein Drittel Mädchen. "Die Kinder und Jugendlichen, die hier lernen, sind nicht dümmer oder weniger begabt als andere, manche sind sogar hochbegabt. Und sie kommen - entgegen mancher Vorurteile - aus allen sozialen Schichten", berichtet die Pädagogin. "Meist sind sie durch aggressives Verhalten, verbale Ausfälle oder andauerndes Schulschwänzen aufgefallen. Immer häufiger haben wir aber auch Schüler - oft sind es Mädchen - die eine Schulphobie haben, dem Stress und Druck nicht gewachsen sind, weil sie zumeist zu Hause große Probleme haben oder aufgrund von Schicksalsschlägen in ihrem privaten Umfeld traumatisiert sind."
Unterstützung durch Fördermaßnahmen und sozialpädagogische Begleitung
Maximal sechs Monate sollen ausgeschulte Kinder durch Fördermaßnahmen begleitet werden, um danach wieder eine normale Schule besuchen zu können. Parallel dazu gibt es die Möglichkeit, dass den Schülern, die in dieser Zeit auch häufig in Wohngruppen untergebracht sind, vom Jugendamt beauftragte Sozialpädagogen zur Seite stehen. Sie sind neben den Lehrern außerhalb der Schule dauerhafte Ansprechpartner und kümmern sich - falls gewünscht - auch während der Freizeit um die Kinder und Jugendlichen, um sie in der schwierigen Lebensphase sozial und emotional aufzufangen.
Expertin: "Wir wollen die Ressourcen stärken und das Selbstwertgefühl der Kinder steigern"
Dieses Ziel verfolgen auch die Pädagogen der Förderschule. "Unsere Grundhaltung ist: Wir trauen unseren Schülern nur Gutes zu und kommunizieren dies auch deutlich", erläutert Bleimehl. "Wir wollen die Ressourcen der Kinder, die sich oft als handlungsunfähig und ohnmächtig erleben, entdecken und stärken und so ihr Selbstwertgefühl steigern. Das ist der Schlüssel zum Erfolg", so die Pädagogin. Die intensive individuelle Betreuung und Förderung funktioniert allerdings nur in kleinen Gruppen. Pro Förderklasse der "Schule am Geisberg" in Darmstadt sind es höchstens fünf Schüler.
Bewusste Reflexion auf das eigene Verhalten und die schulischen Leistungen
In Watte gepackt und geschont werden die ausgeschulten Kinder aber trotzdem nicht. Sie lernen denselben Stoff in den jeweiligen Fächern, die die Bildungsstandards der entsprechenden Jahrgänge und Schultypen vorgeben. Und sie schreiben genauso Klassenarbeiten und bekommen Noten. Nur die Lernatmosphäre ist nun eine andere und die Schüler reflektieren ihren Schulalltag jetzt kontinuierlich. Nach jeder Stunde machen sie nämlich mittels eines Formulars eine Rückmeldung, wie sie sich selbst im Unterricht erlebt haben.
Eigeninitiative ergreifen und nicht mehr in der Opferrolle verharren
Mehrmals im Schuljahr werden dann mit dem Lehrer - manchmal sind auch die Eltern dabei - die Formulare begutachtet, immer mit dem Fokus auf das, was gut gelaufen ist, ohne dabei mit anderen und deren Leistungen verglichen zu werden. "Bei den allermeisten platzt so der Knoten", erzählt Bleimehl. "Sie sind dann in der Lage zu verstehen, was mit ihnen los ist und begreifen eventuell, dass sie nicht in einer Opferrolle verharren müssen, sondern selbst Dinge in ihrem Leben stemmen und steuern können, damit einige Vorhaben positiv laufen."
Dennoch müssen die Schüler auch üben, mit Misserfolgen und schlechten Noten umzugehen ohne wieder in alte Muster zu fallen. "Wir helfen unseren Schützlingen dann auch, solche enttäuschenden Erfahrungen auszuhalten. Wir leiden dann mit ihnen, wenn es mal nicht so gut gelaufen ist und vermitteln dabei die zuversichtliche Botschaft: 'Du hast jetzt zwar eine Fünf geschrieben, das bedeutet aber nicht automatisch, dass die nächste Arbeit wieder schlecht sein muss. Du hast es ja selbst in der Hand.'"
Schule als sicheren und geborgenen Ort erleben
Damit solche Einsichten nachhaltig wirksam sind, finden in der "Schule am Geisberg" zusätzlich etwa alle sechs Wochen für jeden Schüler Förderplangespräche mit dem Klassenlehrer, den zuständigen Sozialpädagogen und den Eltern statt. Im Mittelpunkt stehen dann wieder die Stärken und Ressourcen der Kinder. Das motiviert, und die Förderschüler können Schule unter anderen Vorzeichen als früher erleben, so die guten Erfahrung von Wera Bleimehl: "Die meisten Kinder, die hier unterrichtet werden, fühlen sich wohl. Unser Ziel ist es, sie zu befähigen das Lernen wert zu schätzen und Schule nun als sicheren, geborgenen Ort zu erleben, wo sie Anerkennung, Spaß und Respekt erfahren und nicht das Gefühl haben, gedemütigt oder über- beziehungsweise unterfordert zu werden."