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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Umstrittenes Lehrkonzept "Lesen durch Schreiben": Gehört die Methode abgeschafft?
"Varrat varn machd schbas!" Nicht selten liest man heutzutage solche Sätze in den Heften deutscher Grundschüler - statt "Fahrrad fahren macht Spaß". Der Grund dafür ist, dass an immer mehr deutschen Grundschulen nach der reformpädagogischen Methode "Lesen durch Schreiben" (LdS) unterrichtet wird. Dabei sollen die Kinder Worte so zu Papier bringen, wie sie sie akustisch wahrnehmen. Korrekturen durch Lehrer oder Eltern sind unerwünscht. Viele Mütter und Väter bringt das auf die Barrikaden, denn sie befürchten nachhaltige Rechtschreibschwächen bei ihrem Nachwuchs. Und die Kritik häuft sich - nicht nur in der Elternschaft.
Sollen Grundschüler erstmal frei schreiben - so wie man spricht? Nein, sagt der bayerische Landesschülerrat und fordert die Rückkehr zur alten Lehrmethode, bei der die Rechtschreibregeln von Anfang an strikt eingehalten werden müssen. Die derzeitige Praxis spalte laut Kultusministerium Lehrer und Experten. Eine Entscheidung über eine Reform soll zumindest in Bayern im nächsten Jahr fallen.
Das Konzept "Lesen durch Schreiben"
Seit gut zehn Jahren sollen Schüler der ersten und zweiten Klasse die Worte nach Gehör zu Papier bringen, Fehler werden zunächst nicht angestrichen. Entwickelt wurde das Konzept in den 70er Jahren vom 2009 verstorbenen Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen. Eine Variante dessen ist die in Deutschland weit verbreitete sogenannte "Rechtschreibwerkstatt" vom Schulpsychologen Norbert Sommer-Stumpenholz. Danach sollen Kinder nicht mehr einzelne Buchstaben lernen, sondern zunächst nach Gehör schreiben - also gesprochene Sprache wiedergeben.
Dabei hilft die sogenannte Anlauttabelle, die jedem Kind zur Verfügung steht. Sie unterstützt beim Auffinden der Laute und zeigt dazu passende Bilder, wie etwa A für Affe, Eu für Eule oder Ei für Eis. Das Wort "Haus" entsteht dann beispielsweise, indem die Schüler das H von Hase, das Au von Auto und das S von Sonne abmalen und zu einer Klangkette zusammenfügen. Auf diese Weise erschließen sie sich selbstständig die Beziehung zwischen Laut und Bild und sollten dadurch schnell in der Lage sein, sich schriftlich mitzuteilen. Das Lesen lernen, so das Ziel dieser Pädagogik, ist dabei ein Begleitprodukt, das nach einiger Zeit automatisch hinzu kommt. Seit 1995 wird LdS beziehungsweise die "Rechtschreibwerkstatt" auch an deutschen Schulen unterrichtet. Seither hat sich die Methode rasant verbreitet und wird inzwischen in allen Bundesländern angewandt. Wenngleich noch nicht in allen Schulen, denn die Umsetzung liegt im Ermessen jeder Schule.
"Schreiben nach Gehör wie Operieren nach Gefühl"
Befürworter schwärmen von schnellen Erfolgen und argumentieren, dass Kinder ohne den Rotstift im Schulheft im Unterricht motivierter seien. In den folgenden Jahrgangsstufen aber zeigten sich die dramatischen Auswirkungen, wenn die Rechtschreibung plötzlich benotet werde, kritisierte nun der Schülerrat in München. Vor allem Migrantenkinder seien die Verlierer dieser Praxis. "Was Hänschen nicht lernt, das lernt der Hans nimmermehr", sagt Jasmin Biber, eine Vertreterin des Schülergremiums. Das sei an den weiterführenden Schulen deutlich zu spüren.
Schreiben nach Gehör sei wie Operieren nach Gefühl, fügte Landesschülersprecher Timo Greger hinzu. "Momentan geht man offenbar davon aus, dass die Kinder die deutsche Sprache mit Schuleintritt perfekt beherrschen, denn nur dann wäre es überhaupt möglich, das Gesprochene lauttreu zu Papier zu bringen."
Den größten Nachteil beim phonetischen Schreiben haben dem Schülerrat zufolge die Kinder von Zuwanderern. Sie müssten Deutsch als Fremdsprache lernen und hätten häufig nicht genügend Sprachgefühl, um das Diktierte lautgetreu wiederzugeben. Die Lehrmethode trage somit nicht gerade zur Integration bei. Die Kinder müssten die Regeln der deutschen Rechtschreibung von Anfang an lernen, forderte der Schülerrat. Die Rückkehr zur alten Lehrmethode sei notwendig, um die Qualität der Grundschulen zu erhalten.
Lehrerverband fordert freie Wahl der Lehrmethode
Ein Sprecher des bayerischen Kultusministeriums erklärt: "Wir verstehen, dass es Vorbehalte gegen die Lehrmethode gibt." Unter den Lehrern und selbst unter den Fachleuten an den Universitäten gebe es unterschiedliche Auffassungen. Derzeit sei man mitten in einem Diskussionsprozess. Für Herbst sei eine Anhörung mit Experten und Verbänden geplant. Im Frühjahr 2014 werde dann entschieden, wie die Rechtschreibung künftig an den bayerischen Grundschulen gelehrt wird.
Der Lehrerinnen- und Lehrerverband Bayerns fordert, dass die Pädagogen frei wählen können, welche Lehrmethode sie anwenden. "Ich wünsche mir da etwas mehr Gelassenheit", sagt Verbandspräsident Klaus Wenzel. Seine Erfahrung sei aber, dass das Schreiben nach Gehör für einen großen Motivationsschub bei Kindern sorge. "Sie machen sich mit Stolz und Mut ans Formulieren", so Wenzel. Die Methode wecke bei ihnen die Freude, sich schriftlich auszudrücken.
Marburger Studie zu "Lesen durch Schreiben"
Doch die kritischen Stimmen sind zahlreich und gehen über die bayerischen Landesgrenzen hinaus. Bereits 2005 belegte die sogenannte Marburger Studie, die die Effekte verschiedener Unterrichtsmethoden auf den Schriftspracherwerb bei Grundschülern untersuchte, negative Auswirkungen der Methode. Die Untersuchungen zeigten, dass in der Gruppe, die nach LdS-Grundlagen unterrichtet wurde, der Anteil der Kinder mit Lese- und Schreibproblemen deutlich höher war als in zwei Kontrollgruppen mit herkömmlichem Fibel-Unterricht. Nach einem Schuljahr lag der Anteil der rechtsschreibschwachen Kinder in der LdS-Gruppe bei 16 Prozent, nach zwei Jahren sogar bei 23 Prozent. Bei den "Fibel-Gruppen" war der Anteil in derselben Zeit dagegen nur bei sechs beziehungsweise fünf Prozent.
Besondere Schwierigkeiten hatten Kinder mit Dialekt-Einfärbung oder aus Familien mit Migrationshintergrund, denn ihre oftmals fehlerhafte Aussprache macht das Schreiben nach Gehör schwierig und bringt bei diesem Lernansatz langfristig Nachteile.
Böses Erwachen in der dritten Klasse
Einer der schärfsten Kritiker der Methode ist der ehemalige Lehrer Günter Jansen aus der Eifel. Als seine älteste Enkelin vor sieben Jahren in der Grundschule nach diesem Konzept unterrichtet wurde, war er entsetzt und sammelt seitdem Informationen zu LdS, die er in sogenannten "Elternbriefen" auf der Webseite "grundschulservice.de" veröffentlicht. Zu den anfänglichen schnellen Fortschritten, von denen viele seiner Kollegen sprechen, sagt Jansen: "Das sind nur Scheinerfolge." In der dritten Klasse, wenn auf korrekte Rechtschreibung umgestellt werden müsste, käme meist der Einbruch, der sich bis in die weiterführenden Schulen bemerkbar mache. Dann haben sich nämlich schon individuelle Rechtschreibschwächen fest setzen können, die durch LdS bisher verdeckt waren. Außerdem sind viele Schüler am Ende der Grundschulzeit verunsichert, denn was in den ersten Schuljahren nicht korrigiert wurde, wird nun als falsch angestrichen.
Pädagogik-Experten beklagen außerdem, dass das Konzept alle wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Schriftspracherwerb bei Kindern außer Acht lässt. Danach sind für Grundschulanfänger Wörter meist identisch mit Gegenständen. Dies führt dazu, dass sie oft Schwierigkeiten haben, sich auf einzelne Laute innerhalb des Wortes zu konzentrieren.
Erziehungswissenschaftlerin spricht von "unterlassener Hilfeleistung"
Auch sei der Ansatz, geschriebene Sprache als Abbild von gesprochener Sprache zu definieren, falsch, meint die Erziehungswissenschaftlerin Christa Röber von der Pädagogischen Hochschule in Freiburg. In zahlreichen Interviews und Statements äußert sich die Wissenschaftlerin kritisch zu LdS. In einer Ausgabe der ProSieben-Sendung "Planetopia" etwa machte sie ihren Standpunkt deutlich: "Die Kinder im Regen stehen zu lassen und ihnen den Eindruck zu geben, so wie du das machst, ist das schon okay, ist sicherlich das Falscheste, was man machen kann. Es ist unterlassene Hilfeleistung!" Kinder würden nämlich gerne über feste Regeln lernen und bräuchten solche verbindlichen Orientierungen auch dringend. Das würde den Spaß und die Motivation beim Lernen nicht automatisch verhindern.