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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die ersten drei Stunden zählen Bei vermissten Kindern gibt es keinen falschen Alarm
Im Frühjahr und Sommer verschwinden mehr Kinder. Fast alle werden nach kurzer Zeit wieder gefunden, doch etwa ein Prozent bleibt weg und hinterlässt Eltern in allergrößter Sorge. Das sind ein bis zwei Fälle pro Jahr, wie der des fünfjährigen Dano. Den Familien verspricht die "Initiative Vermisste Kinder": Deutschland findet euch.
Rund 1800 Kinder und Jugendliche gelten in Deutschland als vermisst: Klassische Ausreißer und welche, die beim Spielen die Zeit vergessen haben - unproblematische Fälle. Pro Tag gibt es hierbei zwischen 200 und 300 neue Fälle. Etwa die gleiche Anzahl wird pro Tag wieder gelöscht. Doch dann gibt es Fälle wie den von Dano aus Herford oder den von Maria-Brigitte Henselmann aus Freiburg. Sie ist seit einem Jahr mit einem älteren Mann verschwunden.
Kind vermisst: "Es gibt keinen falschen Alarm"
Sind mehrere Tage verstrichen, dann befürchten Experten schnell das Allerschlimmste: Missbrauch, Tötung, im besten Fall noch Kindesentzug ins Ausland. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Die ersten drei Stunden nach Verschwinden eines Kindes sind die wichtigsten, dann sind die Chancen am größten, Spuren zu entdecken und das Kind unbeschadet wieder zu finden. Dann ist rasches Handeln gefragt, auch mit unkonventionellen Mitteln, wie einer Durchsuchung ganzer Wohnkomplexe mit Spürhunden wie im jüngsten Fall.
Eltern müssen keine Kosten tragen
"Es gibt keinen falschen Alarm", sagt Lars Bruhns, Vorsitzender der ehrenamtlich arbeitenden "Initiative Vermisste Kinder". "Je jünger das Kind ist, desto größer ist der Einsatz", so heißt eine Faustregel. Eltern müssen keine Angst haben, einen Polizeieinsatz bezahlen zu müssen, denn die Entscheidung, wie gesucht wird, liegt bei der Polizei selbst. "Kostenfragen haben in solch einer lebensbedrohlichen Situation gar nichts verloren."
Es gibt viele dieser leichten Fälle: "Da kommt um 9 Uhr der Anruf, dass das Kind vermisst wird und um 10 Uhr, dass es wieder aufgetaucht ist." Doch nur selten gibt es Aktionen, die rückblickend schmunzeln lassen wie diese: Ein Kleinkind war vermisst, schon über Stunden, die Polizei sichte das Haus und die Nachbarschaft ab. Schließlich kam ein Polizist auf die Idee, die Tür zu einer Kammer unter der Treppe zu öffnen. Hier hatte sich das Kind versteckt und ganz still verhalten. "Man kann in das Kind nicht reinschauen, die Eltern sind unter größter Anspannung." Auch diese Eltern haben - trotz glimpflichem Ausgang - richtig gehandelt, als sie die Polizei alarmierten.
Einer aus 100 Fällen ist lebensbedrohlich
Rund 100 Fälle betreut die Initiative parallel. In 99 Prozent der Fälle tauchen die Kinder schnell wieder auf, sie haben einfach die Zeit vergessen, sich bei Freunden geblieben, ohne den Eltern Bescheid zu sagen, ein Missverständnis. Doch dann gibt es eben diesen einen Fall, der anders ist, der lebensbedrohlich ist. Der Fall, vor dem alle Eltern Angst haben, Angst, dass es das eigene Kind sein könnte.
Puffer zwischen Familie und Medien
Im schlimmsten Fall können dann nur noch die Spuren gefunden werden, die eine schreckliche Tat aufklären. Auch dabei hilft die Initiative. Ebenso bildet sie einen Puffer zwischen den Angehörigen und den Medien. Denn obwohl die Öffentlichkeit dringend zur Aufklärung aufgefordert wird, muss die Privatsphäre gewahrt bleiben. Eine schwierige Gratwanderung.
Sofort die Polizei rufen: Notruf 110
"Das Wichtigste ist, sofort die Polizei anzurufen, über die einheitliche Notfallnummer 110, denn die kommt auch in schwachen Netzen durch", ist Bruhns Appell. Die meisten Eltern würden selbst erst alleine suchen, im Bekanntenkreis herumtelefonieren und damit wertvolle Zeit verschwenden.
Außerdem lauten seine Tipps für den Akut-Fall:
- Sofort die Polizei anrufen, unter dem Polizeinotruf 110
- Zuhause bleiben, falls das Kind kommt
- Telefonleitung frei halten
- Familie und Freunde alarmieren, um die Suche im Umkreis (Schulweg, Lieblingsorte, Treffpunkte) zu organisieren und Bekannte abzutelefonieren
Zur Prävention:
- Starke Kinder sind am sichersten: Prävention durch Rollenspiele und Sport
- Trotz der Sorge: Kinder nicht überbehüten und Freiraum lassen
Amber Alert in den USA rettete schon über 600 Kinder
"Wir müssen in den ersten drei Stunden reagieren, aber das ist in Deutschland immer noch nicht der Fall", kritisiert Bruhns. Ein Schwachpunkt ist dabei, dass es kein übergeordnetes Kompetenzzentrum gibt, wie in den Niederlanden. "Amber Alert" aus den USA ist das Vorbild solcher Suchaktionen. "Da weiß jeder in den USA, was das bedeutet".
Benannt wurde das Alarmsystem nach der damals neunjährigen Amber Hagerman, die 1996 im US-Bundesstaat Texas Opfer einer Entführung wurde. Ihre Leiche wurde vier Tage später von einem Spaziergänger entdeckt. Der Täter konnte nie ermittelt werden.
Die Familie von Amber Hagerman engagierte sich nachfolgend mit weiteren betroffenen Familien dafür, strengere Gesetzesauflagen für (vorbestrafte) Sexualstraftäter zu schaffen. Gleichzeitig rückte die Notwendigkeit eines reaktionsschnellen Alarmsystems in den Fokus ihrer Bemühungen. Dies war der Startpunkt für das heutige Amber Alert System in den USA.
Seit der Einführung im Jahr 1996 wurden dadurch bereits mehr als 640 entführte Kinder gerettet. Bruhns betont, wie viel stärker in den USA die breite Bevölkerung in solchen Fällen mitwirkt als in Deutschland, sichtbar wird das auch durch den "Tag der vermissten Kinder" am 25. Mai, den US-Präsident Ronald Reagan 1985 eingeführt hatte.
EU-weit gibt es ein grenzüberschreitendes Alarmsystem für entführte Kinder wie Brigitte-Maria.
Vorbilder für Kampagnen sind USA und Niederlande
Die Niederlande arbeiten sehr erfolgreich landesweit in Vermisstenfällen. Bruhns schildert den Fall eines neunjährigen Jungen aus den Niederlanden: Nach einem sofort ausgerufenen landesweiten Alarm mit TV-Einblendungen, Radio-Durchsagen, digitalen Info-Tafeln auf Bahnhöfen, wurde er rasch wieder gefunden. Auf diese Weise werden viele Zeugen und damit viele Spuren gefunden.
Größter Fehler: Zeit verstreichen lassen
Der größte Fehler ist, Zeit verstreichen zu lassen. Oft werde erst am nächsten Morgen bemerkt, dass das Kind nicht da ist, weil die Eltern denken, es übernachtet bei Freunden, wie bei dem Mädchen aus Oberbayern, das sogar noch einen Hilferuf per SMS gesandt hatte, bevor sie ermordet wurde. Die Initiative arbeitet bei bundesweiten Suchaktionen mit dem Landeskriminalamt zusammen.
Bei Dano ging man erst von einem Unfall aus, die Öffentlichkeit wurde relativ spät eingeschaltet. Jetzt hofft man auf die sozialen Medien. Die Facebookseite "Deutschland findet euch" gewährleistet, dass eine große Zielgruppe erreicht wird, dass aber auch nur aktuelle Fälle online sind.
Spezialfall Kindesentzug
Gerade für die Kindesentzugsfälle wurde im Jahr 2011 die Europäische Hotline 116 000 für vermisste Kinder eingerichtet. Aktuell wurde die Aussendung von Suchmeldungen um den Messenger Dienst Whatsapp erweitert. So will man insbesondere junge Menschen erreichen, die oftmals Hinweisgeber aus dem direkten Umfeld eines vermissten Kindes oder Jugendlichen sind.
Deutschland hat noch Verbesserungsbedarf
Bruhns und seine Mitarbeiter kümmern sich auch darum, dass die Familie des vermissten Kindes am Wohnort gut betreut wird. ist ein Fall abgeschlossen, hört er nur noch selten von den Familien, doch das sei gut so, denn die Familien sollen mit diesem negativen Erlebnis auch abschließen können.
Alle Mitarbeiter der Initiative arbeiten ehrenamtlich, anders beim Pendant der USA. Dort sind alle 300 Mitarbeiter fest angestellt. Bruhns würde sich wünschen, man könnte auch hier das System etablieren oder auf das Know-How pensionierter Polizisten zurückgreifen.
Die "Initiative Vermisste Kinder" ist ein 2008 gegründeter Verein mit Sitz in Hamburg. Der Verein ging 1997 aus einer Initiative betroffener Eltern hervor. Die erste Initiative entstand durch die Kampagne "Wir helfen suchen" der Fernsehsendung Schreinemakers TV. Geleitet wird die Organisation von Lars Bruhns, dem Sohn der 2005 verstorbenen Gründerin Monika Bruhns.