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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Stille Wasser Zu brav ist auch nicht gut
Es gibt Kinder, die sind so richtig brav. Sie bemühen sich um gute Leistungen und rebellieren nicht einmal in der Pubertät. Doch auch diese Kinder haben andere Persönlichkeitsanteile. Wenn es diese im Familiengefüge nicht ausleben kann, hat das lebenslange Folgen.
"Ich möchte nicht, dass meine Kinder nette Trottel werden, die zu träge sind, um aus ihrem Leben etwas zu machen!", schreibt der Familientherapeut Timothy Smith in seinem Buch "Brave Kinder verändern nichts". Smith glaubt, dass vor allem Eltern, die perfekt sein wollen, von ihren Kindern regelrecht erwarten, "brav und nett" zu sein. Alles andere fiele schließlich sonst auf sie und auf ihren Erziehungsstil zurück.
Der Autor, der seit Jahrzehnten mit Jugendlichen arbeitet, wird sehr konkret: "Viele Ratschläge, die wir als Eltern bekommen, helfen, unsere Kinder zu netten Menschen zu machen - zu netten Schwächlingen, zu Menschen ohne Rückgrat, ohne Leidenschaft und ohne Mut". Solchen Menschen fehle es an innerer Stärke und Klarheit. Sie könnten dem Druck nicht standhalten, den ihre Altersgenossen und die Gesellschaft auf sie ausüben. Bestenfalls würden sie in der Masse untergehen, so Smith.
Vorverurteilungen können gravierende Folgen haben
Was Smith allerdings nicht bedenkt, ist, dass nicht nur die Erziehung eine Rolle spielt, sondern auch der Charakter, die Geschwisterkonstellation und die Position, die das Kind in der Familie innehat. In der Psychotherapie geht man davon aus, dass jedes Kind sich die Rolle sucht, die in der Familie noch nicht besetzt ist. "Kinder entdecken schnell jene Seiten des Familienskripts, die noch nicht verfasst sind. Und sie füllen dann die bis dahin leeren Kapitel", erklärt Jan-Uwe Rogge in einem seiner Bücher. Doch der Bestsellerautor weist darauf hin, dass die Eltern ihren Kindern automatisch und völlig unbewusst Rollen zuweisen.
Wut wird nicht gern gesehen
Selbst wenn dies in liebevoller Absicht geschieht, kann das nach hinten losgehen. Denn "unser kleiner Wutnickel" wird seine Rolle genauso erfüllen wie das "Problemkind". Es wird ja schließlich auch nichts anderes von ihnen erwartet. Für die Immer-Braven ist das nicht einfach. Vor allem dann nicht, wenn sie selbst mal über die Stränge schlagen: "Meine kleine Schwester Nele kann sich aufführen, wie sie will. Aber wenn ich mal nicht das tue, was Mama erwartet, dann krieg ich richtig Ärger! Das finde ich so unfair", beschwert sich Nina, die in ihrer Familie als "die Brave" gesehen wird.
Zu Recht, meint die Psychotherapeutin Uta Günther im Gespräch mit dem t-online.de. "Manchmal passiert es, dass Eltern ganze Teile ihres Kindes nicht sehen und damit auch nicht würdigen. Aber Identität entsteht über Wahrnehmung und Spiegelung. Ein braves Kind muss also auch mal wütend sein dürfen."
Wenn die Rollen sich verschieben
Auch Situationen wie eine bevorstehende Trennung oder andere Krisen können zu bestimmten Verhaltensweisen führen. Die einen wehren sich vehement, die anderen passen sich noch stärker an, um den Eltern nicht zusätzliche Probleme zu bereiten. Denn Kinder spüren wie Seismographen, wenn in der Familie ein Beben droht. Da ihnen die Balance in der Familie aber wichtig ist, versuchen sie das auszugleichen und verhalten sich brav und unkompliziert. Ein Phänomen, das man oft auch beobachten kann, wenn ein Kind merkt, dass es mit seinem Verhalten zu weit gegangen ist und sich vorübergehend von einem Bengel in einen Engel verwandelt.
Nele wird von ihrem familiären Umfeld als kleine Nervensäge wahrgenommen, als Trotzkopf, der immer seinen Dickschädel durchsetzen will. Im Gegensatz zu ihrer großen Schwester, von der schon automatisch erwartet wird, dass sie nachgibt. Es ist kein psychologisches Geheimnis, dass man das, was man oft genug über sich hört, auch verinnerlicht und damit ein Kreislauf in Gang gesetzt wird. "Wenn Nele aber, zum Beispiel aus schlechtem Gewissen heraus, vorübergehend ihre Strategie ändert und so richtig lieb und brav ist, dann kann ich mich gleich darauf einstellen, dass Nina sich innerhalb von Minuten zur Oberzicke entwickelt", wundert sich die Mutter. Dabei versuchen die Kinder unbewusst, das System vor dem Kippen zu bewahren.
Ein angepasstes Kind unterdrückt Teile seiner Persönlichkeit
Die systemische Familientherapie arbeitet unter anderem mit Familienaufstellungen. Vereinfacht gesagt, geht man hier davon aus, dass einer, der in dem Gefüge eine Verhaltensauffälligkeit zeigt, Symptomträger für das gesamte System ist. Um diesen Kreislauf also zu unterbrechen, ist es zunächst notwendig, die unter den Kindern verteilten Rollen genauer zu betrachten. "Kinder erfassen das Gesamtsystem, füllen die Bereiche aus, die notwendig sind. Das ist manchmal tragisch, denn das Rollenfüllen kann auf Kosten der eigenen Identität gehen", erklärt Uta Günther. "Wenn das Kind dann die Rollenerwartung erfüllt, zum Beispiel sehr brav und angepasst ist, dann unterdrückt es damit Teile seiner Persönlichkeit." Das kann noch lange ins Erwachsenenleben hineinreichende schwerwiegende, unter anderem auch psychosomatische Folgen haben.
Ist das brave Kind vielleicht gar nicht immer so brav?
Man sollte sich also fragen: Wem wird was zugeschrieben, was muss er dafür tun, wo liegen die Vor- und wo die Nachteile und wie geht es dem jeweiligen Kind damit? In diesem Zusammenhang gilt es auch, die eigene Erwartungshaltung zu überprüfen. Was ist, wenn der sonst so brave Nachwuchs mal nicht so brav ist? Was geht dann in einem selbst vor? Ist man wütend, ist man enttäuscht oder gar traurig? Wie spricht man über sein Kind mit anderen? Und: Übersieht man vielleicht, dass das Kind mit dem Attribut "brav" so brav eigentlich gar nicht ist? Was im Umkehrschluss bedeutet, dass der "Wutnickel", die "Nervensäge" oder der kleine "Besserwisser" auch viele Seiten haben, die man auf den ersten Blick nicht wahrnimmt.
Jesper Juul: Brave Mädchen haben das geringste Selbstbewusstsein
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat in einem Interview mit dem "Spiegel" gesagt, Erziehung finde zwischen den Zeilen statt. Der größte Fehler sei, immer nur darauf zu schauen, wie sich jemand verhalte und nicht darauf, wie es ihm gehe. "Wir wollen nette Kinder. Aber eigentlich wollen auch wir Gehorsam, nur ohne Gewalt. Wir signalisieren: Wenn alle um dich herum zufrieden sind, bist du ein nettes Kind. Nur klappt das leider nicht. Die Kinder sind dann brav, aber hilflos."
Überschreitet der Nachwuchs die Schwelle der Kindheit, werden die Rollen häufig neu interpretiert. In ihrem Ratgeber "Pubertät" bezeichnen die Autoren Angela Kling und Eckhard Spethmann diese Zeit als eine Phase, in der ein Kind die Möglichkeit hat, sich neu zu orientieren: "Jetzt kann es sich noch einmal komplett neu erfinden und neu definieren, unabhängig von den Wünschen der Eltern und anderer." Das brave Kind wird also zumindest versuchen, seine Chance zu nutzen. Wobei das, so Jesper Juul, Mädchen deutlich schwerer fällt als Jungs. Das Klischee macht ihnen zu schaffen. "Bei Teenagern haben Mädchen größere Probleme, besonders die, die bis dahin immer gut funktioniert haben. Ich sage immer: Seid nicht zufrieden mit den stillen Mädchen. Sie haben das geringste Selbstbewusstsein. Sie haben sich nie abgegrenzt und wurden dafür noch belohnt."
Das falsche Selbst
Uta Günther rät Eltern, sich eein respektvolles Interesse zu bewahren, wie die Kinder wirklich sind, wer sie wirklich werden. "Dann ist die Gefahr, dass sich bei Kindern ein falsches Selbst bildet am geringsten und die Bereicherung, die der Kontakt mit den Kindern mit sich bringt, für die Erwachsenen am größten." Im besten Fall kann ein Kind seine kompletten Fähigkeiten entwickeln und alle Teile seiner Persönlichkeit ausleben.
Dazu ist notwendig, dass es weiß, dass es geliebt wird, so wie es ist und nicht so, wie es sein soll. Das gilt für den kleinen Störenfried genauso wie für die unauffälligen, braven Kinder. Nur so wird nicht aus einem überangepassten Kind ein besonders angepasster Erwachsener, der mit Gefühlen wie Aggression nie umzugehen gelernt hat und sich und möglicherweise seine eigene Familie damit kaputt macht.