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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kinderlärm Kleine Krachmacher: Darum müssen Kinder sogar laut sein
"Könnt ihr nicht mal leiser sein!" Diese Ermahnung von Eltern oder genervten Nachbarn hat meist nur einen begrenzten Effekt, denn lebhaftes Spielen, Lärmen und Brüllen gehören bei Kindern untrennbar zusammen, sind sogar wichtig für die kindliche Entwicklung. Eine Expertin erklärt, warum dies so ist.
Für den dreijährigen Tom und seinen Kumpel Leo gibt es nichts Schöneres als nachmittags mit lautem Gebrüll über den Flur zu rasen und ohrenbetäubendes Piratengeheul anzustimmen. Auch die akrobatischen Hüpfübungen beim Entern des Wohnzimmersofas werden begleitet von begeisterten Schlachtrufen der kleinen Freibeuter. Einen Lautstärkeregler oder einen "Aus-Knopf" gibt es nicht.
Offenbar scheint ihnen gerade das entfesselte Spielen mit erhöhter Stimmfrequenz besonders viel Spaß zu machen. So ungehemmt agieren zu können, ist nämlich eine perfekte Möglichkeit sich auszupowern, Dampf abzulassen und Spannungen abzubauen. Gerade Kinder sollten - da sind sich Pädagogen einig - ausreichend Gelegenheiten haben, das zu tun, wonach ihnen der Sinn steht.
Stimme ist Ausdruck der Persönlichkeit
Doch neben der Lust am Lärmen und Rufen spielt der lautstarke Einsatz der Stimme auch für das soziale Miteinander unter Kindern eine wichtige Rolle, weiß Pädagogin und Sprachexpertin Dietlinde Schrey-Dern vom Deutschen Bundesverband für Logopädie: "Die Stimme ist auch Ausdruck der Persönlichkeit. Kinder brauchen sie, um beispielsweise in einer Gruppe zurechtzukommen. Erheben sie ihre Stimme, lernen sie sich zu behaupten. Und wenn dies viele Kinder beim Spiel auf einmal ausprobieren, kann es eben ziemlich laut werden."
Das sei vor allem bei Kampf- oder Ritterspielen der Jungs der Fall, so die Logopädin. Hierbei gehe es wesentlich intensiver als beim Spiel zwischen Mädchen darum, sich zu messen und sich gegenüber anderen durchzusetzen. "Ich selbst bin mit fünf Brüdern aufgewachsen", erinnert sich Schrey-Dern. "Da musste ich mich immer positionieren. Deshalb habe ich vermutlich heute eine relativ laute Stimme."
Je kleiner, desto lauter
Wie lebenswichtig es ist, sich schon frühzeitig Gehör zu verschaffen, zeigt das Verhalten von Säuglingen. Sie machen ebenfalls, wenn auch noch unbewusst, durch ausdauerndes Gebrüll auf sich aufmerksam. Dabei nimmt das stimmliche Volumen überproportional zu, wenn das Baby besonders hungrig ist oder sich unwohl fühlt. Mit steigender Laustärke können die Allerkleinsten ihre elementaren Befindlichkeiten und Bedürfnisse ausdrücken, da sie sonst noch keine andere Möglichkeit zur Kommunikation haben.
Erste Stimmexperimente im Kleinkindalter
Dass man die Stimme auch variieren kann, entdecken Kinder dann etwas später im Krabbelalter, wenn sie beginnen mit "dada" oder "lala" erste Laute zu bilden und diese dann mit großer Ausdauer spielerisch in allen Tonlagen und Geräuschpegeln zu nuancieren.
"Kinder müssen erst lernen, mit ihrem Stimmapparat differenziert umzugehen", erklärt Schrey-Dern. "Diese Fähigkeit zur Modulation bekommen sie nur über häufiges Anwenden und Ausprobieren. Das wird schon sehr früh geübt, ist aber noch ein indirekter Lernvorgang ohne Reflexion."
Regulierendes Feedback von anderen
Sind die Kinder schließlich älter und können sprechen, wird der "angemessene" Einsatz der Stimme zunehmend durch die Umgebung gesteuert. Hier können die Eltern dann regulierend eingreifen, ein Feedback geben, ohne ihre Sprösslinge grundsätzlich einschränken zu müssen.
"Im Vorschulalter würde ich immer versuchen, auf das Kind zuzugehen und eine nahe Kommunikation auf Augenhöhe zu suchen", so die Empfehlung von Schrey-Dern. "Sätze wie etwa 'Komm, flüstere mir ins Ohr' können da schon hilfreich sein." Dabei sei es aber wichtig, so die Expertin weiter, dass die Erwachsenen selbst ruhig, relativ leise und gelassen reagierten. "Das hat einen guten Vorbildcharakter und funktioniert in der Regel sogar auf dem Spielplatz, den Pegel nicht zu hoch schwellen zu lassen."
Gesetz: Kinderlärm ist keine schädliche Umwelteinwirkung
Wie aber sollten Eltern reagieren, wenn Nachbarn oder Fremde sich durch Lärmen des Nachwuchses, sei es im Garten, im Treppenhaus oder auf dem Spielplatz, gestört fühlen? Von der Gesetzeslage her müssen sie sich keine Sorgen mehr machen.
Denn im Frühjahr 2012 hatte der Deutsche Bundestag einer längst überfälligen Änderung des Emissionsschutzgesetzes zugestimmt. Darin wurde unter anderem festgelegt, dass Geräuscheinwirkungen, die von Kindern hervorgerufen werden, in der Regel nicht mehr als schädliche Umwelteinwirkung gelten, wie etwa Baustellen- oder Flugzeuglärm. Anwohner, die gegen Kinderlärm klagen wollen, haben es nun eindeutig schwerer. So erklärte das Oberverwaltungsgericht Münster beispielsweise: "Wer Kinderlärm als lästig empfindet, hat selbst eine falsche Einstellung zu Kindern."
Rücksichtnahme lernen
Sich juristisch auf der sicheren Seite zu fühlen, darf allerdings kein Freibrief für Kinder-Toben und Lärmen ohne Limit sein. Mütter und Väter sollten deshalb bei Beschwerden nicht auf Konfrontationskurs gehen und stur auf das Recht pochen, sondern versuchen, in der Situation zu vermitteln, empfiehlt Logopädin Schrey-Dern: "Hier sollten Eltern denjenigen direkt ansprechen, der sich gestört fühlt und ruhig und gelassen für Toleranz werben und beispielsweise erklären, dass die Kinder gerade intensiv spielten und die Lautstärke für ihre Kommunikation nötig und wichtig sei."
Allerdings sei es ratsam, dabei auch immer Kompromissbereitschaft zu signalisieren und dem verärgerten Nachbarn etwa anzubieten, dass die Kinder, nachdem sie ausgiebig herumtoben durften, ihre Lautstärke drosseln werden.
Damit solche deeskalierenden Maßnahmen überhaupt funktionieren, müssen die Absprachen allerdings konsequent mit den Kindern besprochen werden: "Man kann Kindern trotz aller Freiheit auch deutlich sagen", sagt Schrey-Dern, "dass laute Stimmen stören können. Auch das müssen Kinder in diesem Zusammenhang lernen: gegenseitige Rücksichtnahme!"