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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Vor 60 Jahren Der DDR-Film, der wegen einer Pappmauer verboten wurde
Manchmal gibt es seltsame Zufälle im Leben. Zum Beispiel, wenn ein Film von der Wirklichkeit eingeholt wird. So passiert am 13. Juni 1961 mit der Defa-Satire "Das Kleid".
Es ist sogar ein längerer Zweispalter in der Sonntagsausgabe der "Berliner Zeitung" vom 13. August 1961. In der Beilage auf Seite 4 stehen wie jede Woche Neuigkeiten aus Kunst und Kultur. Und auch etwas darüber, was, wo und mit wem die Deutsche Film AG, kurz Defa – das staatliche Filmstudio der DDR – zurzeit dreht. Ein Filmprojekt dieser Tage, so liest man, ist "Das Kleid", eine bissige Satire für Erwachsene, die zwar auf ein Märchen zurückgeht, aber Gegenwartsbezüge enthalten soll.
Was die Zeitungsleser an jenem 13. August nicht ahnen: Sie werden diesen fast abgedrehten Film in der DDR niemals im Kino oder TV sehen. Denn das Projekt wird zwei Tage später gestoppt und der Film danach komplett verboten. Erst 30 Jahre später sollte er erstmals gezeigt werden.
Ein Grund: Der Film zeigt etwas, mit deren Bau just an diesem Augustsonntag in Berlin begonnen wird – eine Mauer. Zufall, Vorahnung oder (provokante) Berechnung der Filmemacher?
Schon in der Sowjetunion verboten
Es mag im Rückblick überraschen. Aber dieser spätere Verbotsfilm startet durchaus hoffnungsvoll und ambitioniert. Die Defa-Leitung sieht den Film während der im Juni 1961 beginnenden Dreharbeiten sogar als eines ihrer Prestigeobjekte an.
Vielleicht auch deswegen, weil ein Theaterstück – das wie "Das Kleid" auf Hans Christian Andersens "Des Kaisers neue Kleider" zurückgeht – erfolgreich an einem Moskauer Theater läuft: "Der nackte König". Beste Voraussetzungen für die DDR-Produktion. Aber nur scheinbar.
Denn schon dieses sowjetische Theaterstück, in dem es über einen brutalen und machtbesessenen Despoten geht, hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Es wird in der Sowjetunion 1934 "aus nicht näher bezeichneten Gründen" verboten. Man munkelte, der Diktator im eigenen Land – Stalin selbst – stecke dahinter. Erkannte er sich womöglich in der Titelfigur wieder? Erst 1959, sechs Jahre nach dessen Tod, wird "Der nackte König" uraufgeführt.
Geschichten, die die Macht verhöhnen
Im Theaterstück wie auch im Andersen-Märchen geht es im Kern um einen eitlen und prunksüchtigen Kaiser, der sich nur für neue Kleider interessiert. Zwei Betrüger wollen dem Herrscher einen außerordentlich schönen Stoff weben. Dieser hätte zugleich eine besondere Eigenschaft.
Denn er bliebe für jeden unsichtbar, der nicht für sein Amt tauge oder unbeschreiblich dumm sei. Aus Angst als Fehlbesetzung zu gelten, preist der ganze Hofstaat – und auch der Kaiser selbst – den Stoff, der gar nicht da ist. Einzig ein Kind aus dem einfachen Volk spricht am Ende die Wahrheit: "Aber er hat ja gar nichts an!" Der nackte Kaiser ist blamiert.
Solche Geschichten, die die Macht verhöhnen und den Oberen frech den Spiegel vorhalten, sind immer aktuell – aber ebenso immer ein bisschen gefährlich. Auch in der DDR?
"Brigitte Bardot der DDR" spielt mit
Erst einmal nicht, denn die Dreharbeiten verlaufen ganz ohne Schwierigkeiten. Mehr noch: Der Defa-Film darf aus dem Vollen schöpfen. Gedreht wird farbig auf edlem Agfacolor und in teurem Breitwandformat (Totalvision). Bekannte Vollblutkomödianten wie Wolf Kaiser, Star des Berliner Ensembles, in der Rolle des Kaisers Max stehen vor der Kamera.
Und hoffnungsvolle Jungschauspielerinnen wie die 26-jährige Eva-Maria Hagen. Die "Brigitte Bardot der DDR" spielt in "Das Kleid" das einfache Mädchen Kattrin, das den Männern den Kopf verdreht. Wenn sie mal nicht vor der Kamera oder auf der Bühne steht, kümmert sie sich um ihre sechsjährige Tochter Catharina, die später als Nina Hagen erst die DDR und dann die ganze Welt aufmischen sollte.
Das Drehbuch schreibt der 34-jährige Egon Günther, zugleich auch Co-Regisseur. Er hält sich im Kern an das Andersen-Märchen, fügt aber neue, eigenwillige Ideen hinzu – die ihm zwar noch nicht während, so doch am Ende der Dreharbeiten teuer zu stehen kommen.
Wo Milch und Honig zu fließen scheinen
Denn in seiner Filmversion stoßen die beiden arbeitssuchenden Tuchwebergesellen Hans (Horst Drinda) und Kumpan (Werner Lierck) gleich zu Beginn auf ein mitten in der Landschaft stehendes meterhohes Bauwerk aus riesigen Steinquadern, das scharf bewacht wird.
Als sie einen auf Posten stehenden Soldaten fragen, antwortet der leicht sächselnd: "Das ist die Mauer, die quer durchgeht. Dahinter liegt die Stadt und das Glück." Rein dürfen beide nicht. Sie schaffen es aber trotzdem und sind endlich dort, "wo Milch und Honig zu fließen scheinen für jeden" – wie ein Zwischentitel zuvor verrät.
"Ich konnte das doch nicht wissen"
Nach dem 13. August 1961 sind solche Sätze und auch die Bilder von einer meterhohen, scheinbar unüberwindbaren Mauer allerdings pure Provokation. Der damals frischgebackene Generaldirektor der Defa, Joachim Mückenberger, erinnert sich Jahre später: "Jeder Satz dort hatte eine Beziehung zur Gegenwart und der Situation, die gerade eingetreten war, von der weder der Autor noch der Regisseur, als sie zu drehen begonnen hatten, die leiseste Ahnung besaßen."
Auch Egon Günther selbst erzählt in einem Interview von 1999, dass das sieben Meter hohe (Papp-)Hindernis damals auf dem Gelände der Defa-Studios in Potsdam-Babelsberg entsteht – und nur wenige Tage später wird dann die Mauer gebaut. "Ich konnte das doch nicht wissen", so der Drehbuchautor.
"Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten"
Die US-amerikanische Filmwissenschaftlerin Qinna Shen erinnert in diesem Zusammenhang auf eine unrühmliche Pressekonferenz von DDR-Staats- und Parteichef Walter Ulbricht ("Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten"). Diese findet am 15. Juni 1961 statt, also genau zwei Monate vor dem Mauerbau und dem vorläufigen Aus von "Das Kleid".
Mag sein, dass der eine oder andere – vielleicht auch Egon Günther selbst – bewusst oder unbewusst schon viel früher Veränderungen in der DDR wahrnimmt, die später mit dem Mauerbau Wirklichkeit werden. Dafür spricht auch, dass eine Drehbuchfassung des Films bereits am 20. März 1961 vorliegt, also ein halbes Jahr vor den Ereignissen im August. Und darin kommt die Mauer schon vor.
Gelenkte Justiz und heuchlerische Ministerriege
Dabei ist die Pappmauer für die DDR-Filmfunktionäre eigentlich nur der augenscheinlichste Grund, "Das Kleid" aus dem Verkehr zu ziehen. Es sind eine ganze Reihe von satirischen Anspielungen und frechen Überspitzungen auf diktatorische Herrschaftszustände, die sich Egon Günther einfallen lässt. Und in denen die Filmverantwortlichen die DDR-Zustände erkennen wollen.
So gibt es in der ummauerten Stadt eine Menge Soldaten, die akribisch darauf achten, dass dem tyrannischen Kaiser auch der angemessene Respekt von seinem Volk erwiesen wird. Ansonsten verhaften Geheimagenten in Trenchcoat und Schlapphut aufmüpfige Bürger schon mal auf der Straße. Und im Schloss stützt sich der Monarch auf eine heuchlerische Ministerriege und eine (von ihm) gelenkte Justiz, die Urteile nach kaiserlicher Ansage fällt.
Nackt auf einem Triumphwagen
Als die vermeintlichen Tuchmacher dem Kaiser das (unsichtbare) Kleid schneidern und der sich bei einem großen Umzug durch die Stadt – auf einem Triumphwagen wie ein römischer Imperator – nackt feiern lässt, lacht das Volk ihn aus. Ramponiert rettet er sich in den Thronsaal des Palastes.
Doch selbst in dieser Schlusssequenz offenbart der Kaiser seine ganze Unfähigkeit, der Wahrheit ins Auge zu sehen. "Wie viele haben gelacht in der Bevölkerung? Antworten Sie in Prozent!" fragt er den Außenminister (Gerd E. Schäfer). – "Ich tippe auf 80 Prozent." – "80 Prozent der Bevölkerung werden ausgewiesen!" Nicht nur dieser Dialog zeigt anschaulich, weshalb der Film den Zorn der Funktionäre geradezu herausfordert.
"Objektiv parteifeindlich" und "konterrevolutionär"
Am 28. März 1962 wird "Das Kleid" bei der Endabnahme als "objektiv parteifeindlich" und "konterrevolutionär" eingeschätzt – und verboten. Anfang 1963 werden die Filmrollen im Staatlichen Filmarchiv der DDR eingebunkert.
Erst im Sommer 1990 kann Regisseur Konrad Petzold seinen Verbotsfilm vollenden. Da nicht alle Töne erhalten geblieben sind, muss nachsynchronisiert werden. Waren die Schauspieler bereits verstorben, übernahmen Kollegen die Rollen.
Am 8. Februar 1991 berichtet die "Berliner Zeitung" in einer Kurznachricht von einem "Kleinen Defa-Festival". Es findet am darauffolgenden Wochenende im Ost-Berliner Kino "Babylon" statt. Eine Premiere steht auf dem Programm: "Das Kleid" (1961/91). Doch ein Nachruhm, den andere DDR-Verbotsfilme für sich verbuchen können, bleibt dem längst vergessenen "Kleid" versagt. Ein Märchen ohne glückliches Ende.
- Andersen, Hans Christian: Des Kaisers neue Kleider. In: Ders.: Sämtliche Märchen. Vollständige Ausgabe. Aus dem Dänischen von Thyra Dohrenburg. Mit Illustrationen von Vilhelm Petersen und Lorenz Frølich. Mannheim, 2012, S. 108–113.
- Drawer, Christel (Hrsg.): So viele Träume. Defa-Film-Kritiken aus drei Jahrzehnten von Heinz Kersten. Berlin, 1996, S. 348–350.
- Drehbuch "Das Kleid". VEB Defa-Studio für Spielfilme. Fassung: D II/33 vom 20.3.1961.
- DVD "Das Kleid" (1961/91). Bonus: Ralf Schenk im Gespräch mit dem Drehbuchautor Egon Günther (1999, ca. 14 Minuten). Icestorm Entertainment, 2018.
- Hendrik, Jens: Warten auf Sonnenschein. Babelsberger Gespräche mit vielen Bekannten. In: Berliner Zeitung, 13.8.1961, Jg. 17, Nr. 222, Beilage S. 4.
- Henschel Schauspiel: Der nackte König. Uraufführung am Sovremennik-Theater Moskau (1959)
- Poss, Ingrid/Warnecke, Peter (Hrsg.): Spur der Filme. Zeitzeugen über die Defa. Berlin, 2006, S. 162–164.
- Schenk, Ralf: Das Kleid. In: Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz (KJK), Ausgabe 78-2/1999.
- Schwarz, Jewgeni: Märchenkomödien. Aus dem Russischen. Übersetzung von Günter Jäniche, Hansjörg Utzerath und Martin Wiebel. Nachwort von Gerhard Schaumann. Leipzig, 1974.
- [o. A.]: Kino bis in die Nacht. In: Berliner Zeitung, 8.2.1991, Jg. 47, Nr. 33, Beilage S. 16.