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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Disziplin in der Erziehung Brauchen unsere Kinder "Zucht und Ordnung"?
Diskussionen über Kindererziehung erhitzen seit jeher die Gemüter. Im Fokus der Debatte steht in letzter Zeit auch wieder der altgediente Begriff der Disziplin, der vor allem bei früheren Generationen zentrale Bedeutung hatte. Doch wie zeitgemäß ist es heute noch, dem Nachwuchs diese "Tugend" mit auf den Weg zu geben? Oder passt sie als unverzichtbares pädagogisches Gut nicht sogar optimal zu den Werten und Anforderungen unserer Leistungsgesellschaft?
Gefühlte hundert Mal müssen Max' Eltern täglich energisch eingreifen, um ihren Sohn in die Schranken zu weisen. "Jetzt reicht es aber. Kannst du nicht endlich mal deine matschigen Fußballschuhe ausziehen, wenn du vom Kicken kommst", schimpft dann beispielweise Papa in der Endlosschleife, wenn der Vierjährige mal wieder alle Absprachen ignoriert. Auch Mama wird nicht müde, wenn sie Max' achtjährigen Bruder Aaron mehrmals in der Woche eindringlich erinnern muss, doch bitte seinen "inneren Schweinehund" zu überlisten und sich nachmittags um seine Schularbeiten zu kümmern.
Umstrittene Lektüre: "Lob der Disziplin"
Reibungsloses Spuren ohne Widerrede - das wünschen sich Eltern manchmal in solch nervigen Situationen. Doch wie soll das am besten gelingen? Zum Beispiel mit dem Erlernen von "strenger Disziplin", wie der ehemalige Leiter der Internatsschule Salem Bernhard Bueb in seiner Streitschrift "Lob der Disziplin" vorschlägt. Für den Pädagogen ist das Vermitteln dieser "Tugend" nicht nur in der Schule eine sinnvolle und unverzichtbare erzieherische Maßnahme, um Kinder zu formen. Für ihn ist "Disziplin das Tor zum Glück der Anstrengung und des Gelingens."
Dies umzusetzen, funktioniere allerdings häufig nicht ohne das Einfordern von Gehorsam und der Furcht der Kinder vor möglichen Strafen, wenn sie gegen bestimmte Regeln verstießen. Furcht gehöre seit jeher grundsätzlich zum Leben des Menschen dazu und sei eine hilfreiche Eigenschaft, die ihn erfolgreich weiter bringe, so der Ex-Schuldirektor.
Rückbesinnung auf traditionelle Werte
Das Plädoyer des Autors für die Rückkehr zu autoritären Erziehungsmethoden fiel bei vielen Eltern auf fruchtbaren Boden. Denn trotz eines riesigen Angebots von Ratgeberbüchern und vielen TV-Sendungen mit "pädagogisch wertvollen" Inhalten scheint Erziehung heute in einer sich ständig wandelnden Welt nicht leichter geworden zu sein. Feste Normen, an denen man sich orientieren könnte, fehlen oftmals, mit der Konsequenz, dass viele Eltern verunsichert reagieren. Kein Wunder also, dass die Rückbesinnung auf "traditionelle" Werte wie Disziplin oder Gehorsam von zahlreichen Müttern und Vätern als einfache und klare Lösung dankbar angenommen wird.
Autoritäre "Disziplin-Pädagogik" wird von den meisten Experten abgelehnt
In der Fachwelt werden die Standpunkte Buebs, die bereits 2006 publiziert wurden, dagegen sehr kritisch gesehen. Bei vielen namhaften Erziehungswissenschaftlern löste die Abhandlung eine Welle der Entrüstung aus. Vor allem der renommierte, 2011 verstorbene Diplom-Pädagoge Wolfgang Bergmann konterte in seinem viel beachteten Buch "Disziplin ohne Angst" und setzt in seinen Thesen dem blinden Gehorsam, durch den der Mensch in erster Linie funktionieren soll und nicht über sein Handeln entscheidet, gewachsenen Respekt, gegenseitiges Verständnis, Großherzigkeit sowie Mitgefühl entgegen. Eine Pädagogik des Zwangs und der Unterwerfung, so der Autor, zerstöre systematisch das Vertrauen der Kinder, in diejenigen, die sie anwenden und auch in deren Autorität.
"Disziplin" stammt aus dem militärischen Sprachgebrauch
Diplompsychologe und Familienberater Andreas Engel gehört ebenso zu den strikten Gegnern des "Disziplin-Konzepts". Ein Ausdruck, der eigentlich aus dem militärischen Sprachgebrauch stamme und mit "Zucht und Ordnung" in Verbindung stehe, so der Experte gegenüber der Elternredaktion von t-online.de, sei unvereinbar mit zeitgemäßer Kinder-Erziehung: "In dieser 'schwarzen' Pädagogik, die auch Bueb vertritt und die alle neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse ignoriert, soll sich das Kind dem Willen der Eltern beziehungsweise der Lehrer unterwerfen. Das ist ein vordemokratischer Erziehungsstil, der sich jedoch heute standhaft noch nach dem Motto 'Das hat noch niemandem geschadet' hält und in unserer Gesellschaft verankert ist. Es ist ja auch nicht allzu lange her, dass unsere Großelterngeneration so erzogen wurde."
Vertrauen und Geborgenheit sind die Basis für eine gute Entwicklung
Für Engel sollte an erster Stelle des elterlichen "Erziehungsauftrags" die zwischenmenschliche Bindung zu ihrem Nachwuchs stehen: "Es ist deshalb besonders wichtig, dass Kinder Vertrauen aufbauen können und sich geborgen fühlen. Das ist die Grundlage für eine gute Entwicklung", erklärt der Psychologe. "Erziehung muss sich unbedingt an den Bedürfnissen der Kinder und nicht an denen der Erwachsenen orientieren, nur weil es sich bei diesen um vermeintlich gesellschaftliche Bedürfnisse handelt." Außerdem ginge es heute eher darum, so der Experte weiter, den eigenen Lebensweg kreativ und aus sich selbst heraus zu gestalten. Disziplin gekoppelt mit Furcht und Gehorsam könne da keine Rolle spielen, denn der kindliche Wille werde so gebrochen und jegliche Individualität und Eigeninitiative unterdrückt.
Positives Vorbild der Eltern macht diktierte "Disziplin" überflüssig
Aber wie kann es dann gelingen, Kinder fit fürs Leben zu machen und sie gleichzeitig an gewisse Regeln heranzuführen, die sie dann befähigen, spätere Lebensanforderungen in Schule oder Beruf selbstständig und engagiert zu meistern? Die Voraussetzungen dazu würden vor allem durch ein gut funktionierendes harmonisches Familienleben möglich, so Engel: "Eltern sollten hier stets versuchen als positives Vorbild zu fungieren und Wertvorstellungen vorzuleben. Was sie tun, wie sie es tun und in welchem Zusammenhang, ist also entscheidend. Dann machen die Kinder dies unaufgefordert nach, teilweise weil sie ihren Eltern gefallen wollen, weil sie gelobt werden wollen oder weil es einfach Spaß macht. So geschieht fast alles automatisch und Kinder wachsen ohne Zwang in eine geborgene Gemeinschaft mit bestimmten Strukturen hinein. Das Überstülpen pädagogischer Prinzipien von außen sollte dann überflüssig sein."
Selbstdisziplin ist nicht fremdbestimmt
Keine strenge Disziplin einzufordern, muss also nicht automatisch zu Disziplinlosigkeit führen. Vieles, was Kinder nämlich täglich machen, wie etwa morgens und abends Zähne zu putzen, nach dem Toilettengang die Hände zu waschen oder auch kleine Haushaltspflichten zu übernehmen, ist bestimmten, von Vätern und Müttern vorgelebten, Verhaltensweisen geschuldet, die von den Sprösslingen nach einiger Übung meist "diszipliniert" nachgeahmt werden. Der Unterschied besteht nun allerdings darin, dass die Kinder nicht fremdbestimmt agieren und blind parieren, sondern ihr Tun aus Einsicht zustande kommt, weil sie einen Sinn in ihren Handlungen sehen, die irgendwann schließlich zur Gewohnheit werden.
Die Tübinger Erziehungswissenschaftlerin Karin Amos nennt dies in ihren Publikationen im Unterschied zur negativen von außen diktierten Disziplin positive Selbstdisziplin, die auf der freien Entscheidung basiere. Diese Art der Disziplin stärke sowohl das Selbstwert- als auch das Verantwortungsgefühl, fördere respektvolles Zusammenleben, Zuverlässigkeit und helfe Kindern Durchhaltevermögen zu entwickeln und so selbstkontrollierte Verlässlichkeit und Kontinuität zu leben - ohne Druck und Unterwerfung.