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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erziehung Wie viel Wut darf sein? Wenn Kinder ihre Eltern zur Weißglut bringen
In der Werbung wird das Idealbild der perfekten Eltern beschworen, die nie die Nerven verlieren: Matsch von Fußballschuhen auf dem frisch gewischten Fußboden löst bei der milde lächelnden Mutter allenfalls Putz-Wut aus. Und ein Vater lässt sich beim Frühstück nicht aus der Ruhe bringen, wenn seine pubertierende Tochter mit den Schranktüren knallt. Die Realität sieht anders aus: Obwohl wir unsere Kinder heiß und innig lieben, treiben sie uns regelmäßig in den Wahnsinn. Doch wie viel Wut darf sein und wie sollen Eltern damit umgehen? Diplompsychologe Andreas Engel gibt Rat.
Alle wollen gute Eltern sein, trotzdem verzweifeln viele Väter und Mütter über Schwierigkeiten bei der Kindererziehung. Vor allem dann, wenn sie an ihre Grenzen kommen und ausrasten, weil ihr Nachwuchs sie zur Weißglut bringt. In Chats tauschen sich genervte Eltern aus und suchen Rat. Rita schreibt beispielsweise: "Ich weiß mir auch nicht mehr zu helfen. Manchmal möchte ich meinen vierjährigen Sohn am liebsten an die Wand klatschen, er bringt mich durch seine Bockigkeit auf die Palme." Svenja beklagt sich: "Ich fühle mich einfach ohnmächtig gegenüber meiner dreizehnjährigen Tochter. Die kann mich so provozieren, dass ich ihr am liebsten eine Ohrfeige geben würde und sie zum Teufel wünsche. Und dabei liebe ich sie doch."
Psychologe: "Kinder finden bei uns immer weniger statt"
Für den Diplompsychologen und stellvertretenden Vorsitzenden der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung, Andreas Engel, sind solche Unsicherheiten bei Eltern typisch. Gegenüber der Eltern-Redaktion von t-online erklärt er: "Kinder stehen heute mehr im familiären Mittelpunkt als früher, weil sie angesichts der weiter sinkenden Geburtenraten in Deutschland zu einem seltenen Gut geworden sind und sich das ganze Tun und Streben der Mütter und Väter auf sie konzentriert." Das habe zur Folge, dass es immer seltener möglich sei, Erfahrungen im selbstverständlichen Umgang mit Kindern zu sammeln, beklagt Andreas Engel: "Kinder finden immer weniger statt und es kommt zur Entfremdung. Für viele junge Eltern ist ihr erstes eigenes Baby oftmals das erste, das sie jemals im Arm hatten."
Warum "Verdammte Scheiße, schlaf ein!" ein Bestseller ist
Wie groß der Zwiespalt zwischen dem Anspruch elterlicher Perfektion und der Realität ist, fasst die prominente Autorin Charlotte Roche in ihrem Buch "Schoßgebete" in Worte, wenn sie feststellt, dass sie es manchmal hasst, Mutter zu sein. Und die "Stern"-Autorin und zweifache Mutter Stefanie Rosenkranz fragt ketzerisch: "Diese Nervensägen - müssen wir unsere Kinder immer lieben?"
Wie groß das Bedürfnis ist, solche Widersprüche zu artikulieren, zeigte letztes Jahr auch der Erfolg des amerikanischen Büchleins "Verdammte Scheiße, schlaf ein!" von Adam Mansbach. In Versen besingt er die Verzweiflung eines Vaters beim Zu-Bett-Bringen seiner kleinen Tochter und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Die erste Auflage des Buches war binnen kurzer Zeit ausverkauft, weil darin sehr humorvoll, aber auch ungeschönt ist, was viele Eltern empfinden. Der Autor erklärte gegenüber der "FAZ", dass der Erfolg seines Buches mit Ehrlichkeit zu tun habe. Von Eltern werden heutzutage Fehlerlosigkeit erwartet und es gebe zu wenig Raum, zuzugeben, dass nicht immer alles reibungslos laufe und dass nicht alle Gefühle, die man für seine Kinder hege, positiv seien.
Unser Leben ist von Gefühlen strukturiert
Erziehungsexperte Engel weiß aus seiner Berufspraxis, dass es ganz alltäglich ist, wenn Eltern gegenüber ihrem Nachwuchs auch mal Nerven zeigen und bei Konflikten in Rage geraten. Das sei kein Grund für ein schlechtes Gewissen. "Gefühle zu zeigen ist völlig in Ordnung. Emotionen in jeglicher Schattierung machen doch unser Leben aus, machen es bunt und lebendig. Und sie strukturieren es." Bei negativen Gefühlen gegenüber ihren Kindern sei es jedoch entscheidend, wie Eltern damit umgehen. "Frustration war bei unseren steinzeitlichen Vorfahren ein normales Gefahrensignal und wurde reflexartig ausgelebt. Da wir aber nicht mehr in der Steinzeit leben, haben wir heute den Anspruch unsere zwischenmenschlichen Beziehungen kontrolliert zu gestalten."
Auf Distanz gehen statt auszurasten
Es sei wichtig, mit Frustration so umzugehen, dass man sich selbst und andere damit nicht schädige: "Eltern sollten versuchen, zunächst ihre Gefühle zu analysieren und sie nicht wie einen Wutreflex auszuleben oder im schlimmsten Fall sogar tätlich gegenüber ihrem Kind werden", so der Erziehungsexperte. "Eine gute Möglichkeit, sich selbst den Druck zu nehmen, ist eine Auszeit. Das funktioniert bei Erwachsenen genauso wie bei Kindern." So kann es schon helfen, tief durchzuatmen oder den "Kriegsschauplatz" zu verlassen, um bei einem Spaziergang buchstäblich Abstand zu gewinnen. "Gut ist es auch, wenn man es schafft, darüber ein oder zwei Nächte zu schlafen oder mit jemanden zu reden. Dann sehen Konflikte oft schon ganz anders aus", weiß Engel. Säuglinge und Kleinkinder können Eltern natürlich nicht spontan alleinlassen. Wer kurz vor dem Ausflippen steht, sollte lieber den anderen Elternteil bitten: "Übernimm du mal!"
Drastische Worte ängstigen jüngere Kinder
Ebenso kommt es auf den Tonfall, den Eltern während einer Auseinandersetzung anschlagen. Auch hier gilt es, trotz aller Wut Fingerspitzengefühl zu wahren. Vor allem bei kleineren Kindern wirken im Zorn geäußerte Worte verstörend: Engel rät, drastische Phrasen wie "ich könnte dich an die Wand klatschen" zu vermeiden. "Kinder können Angst bekommen, weil sie mit solchen symbolischen Bildern nicht umgehen können und sie wörtlich nehmen." Eltern sollten besser versuchen, im gemäßigten Ton ihre Gefühle zu beschreiben und sie zu begründen, wie etwa "ich bin traurig, weil…" oder "ich habe mich über dich geärgert, weil…"
Wie man Ärger über rotzfreche Teenies Luft macht
Bei Teenagern richten verbale Ausbrüche der Eltern meist weniger Schaden an, da sie schon eher auf Augenhöhe mitdiskutieren können als Jüngere. Aber hier gilt für Eltern ebenfalls das Gebot, die Wut zunächst in ruhigeres Fahrwasser zu lenken und dann offen über ihren Zorn zu sprechen: "Jugendliche kann man in einem Streit ruhig sagen, dass man ihnen am liebsten eine klatschen würde, es aber trotzdem vorzieht, an die frische Luft zu gehen, um Dampf abzulassen", mein der Psychologe. Das nehme für beide Seiten die Spannung raus.
Nie vergessen: Kinder ticken anders als Erwachsene
Die Kernfrage ist, wie Eltern es schaffen können, Auseinandersetzungen mit ihrem Nachwuchs gar nicht erst hochkochen zu lassen? Hier helfe es oftmals, sich die kindlichen Entwicklungsschritte bewusst zu machen. Engel verdeutlicht: "Wenn man zum Beispiel akzeptiert, dass kleine Kinder beispielsweise noch kein Zeitgefühl haben oder viel schneller in Wut geraten, weil ihre Frustrationsgrenze niedriger ist als bei Erwachsenen. Die elterliche Gefühle kippen gar nicht erst ins Negative, wenn man sich im Klaren darüber ist, dass Kinder in bestimmten Altersphasen bestimmte Dinge einfach noch nicht können." Mit diesem Bewusstsein reagiert man, egal wie groß der Stress ist, automatisch gelassener und toleranter.