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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kevinismus Kevinismus: Was an den Namensvorurteilen wirklich dran ist
Vornamen verleihen Identität, ein Leben lang. Sie sind mit das erste, was man von jemand anderem erfährt und häufig rufen sie bestimmte Assoziationen hervor. Eltern sollten dies ernst nehmen und sich gut überlegen, ob sie heutzutage ihr Kind wirklich Kevin, Chantal, Justin oder Jeremy nennen sollen. Denn spätestens seit dem berühmt-berüchtigten Lehrerzitat "Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose" werden diese Vornamen vor allem mit Verhaltensstörungen und mangelnder Bildung verbunden. Was aber ist wirklich dran an den Vorurteilen? Gibt es tatsächlich typische Unterschichten-Namen?
"Als Kevinismus (weibliche Form: Chantalismus) bezeichnet man die krankhafte Unfähigkeit, menschlichem Nachwuchs menschliche Namen zu geben", heißt es auf Uncyclopedia, dem satirischen Pedant zu Wikipedia. Auf der populären Internetseite "Chantalismus" können Leser Geburtsanzeigen oder Heckscheibenaufkleber mit besonders ungewöhnlichen Namen ("Horst-Kevin", "Chiara Valentina Chayenne", "Tyson Toni") hochladen, um sich anschließend mit anderen darüber lustig zu machen. Fröhliches Vornamen-Lästern ist zurzeit fast allgegenwärtig.
Film- und Musikstars als Namenspaten in bildungsfernen Schichten
Schuld an dem schlechten Ruf vieler Namen ist aber vor allem eine Schulstudie von 2009. Lehrer wurden damals befragt, inwieweit die Vornamen der Schüler etwas über ihre Leistungsfähigkeit aussagen - mit dem Ergebnis: Alexander, Maximilian, Lukas oder Sophie seien freundlich und erfolgreich in der Schule, während Kevin, Chantal, Angelina, Justin oder Mandy meist wenig gebildet, dafür aber häufig verhaltensauffällig seien. Als Folge der Lehrerbefragung wurden diese Vornamen, die größtenteils aus dem englischsprachigen Raum kommen, in den Medien und in bildungsnahen Kreisen fortan als Unterschichten-Namen abgestempelt.
Ein solches Muster lässt sich wirklich erkennen: "Bildungsfernere Schichten orientieren sich heute nicht mehr so stark an den oberen Schichten wie früher, sondern eher an den Medien Film, Fernsehen und Musik", erklärt Gabriele Rodriguez von der Vornamenberatungsstelle der Universität Leipzig. "Daher kommt auch die Dominanz des Englisch-Amerikanischen in den bildungsferneren Schichten." So könnten zum Beispiel Justin Timberlake, Angelina Jolie und natürlich in den 90er Jahren der Film "Kevin allein zu Hause" auch als Namenspaten für viele deutsche Kinder gewirkt haben. Um sich ausreichend von der Masse abzuheben, werden diese Vornamen zudem gerne durch Zweitnamen ergänzt. Daraus ergeben sich jene Mehrfachnamen wie "Horst-Kevin", "Brandon Phoenix" oder "Ashley-Rhianna", die auf besagtem Chantalismus-Blog mit Vorliebe dem Spott der Internet-Gemeinde ausgesetzt werden.
Kevinismus: Nicht jeder Kevin ist verhaltensgestört
Dass es allerdings in Deutschland mehr Kevins mit gestörtem Verhalten gebe, schränkt Rodriguez ein. Gebildete Leute, wie zum Beispiel die Lehrer in der Studie, haben bemerkt, dass einige Kinder mit diesem Namen Verhaltensauffälligkeiten aufweisen. "Das hängt aber damit zusammen, dass der Name Kevin in den 90er Jahren in extrem vielen Familien vergeben wurde", so die Sprachwissenschaftlerin. "Wenn sie jetzt tausende Kevins in den Schulen haben, ist die Wahrscheinlichkeit, darunter ein Kind mit Verhaltensauffälligkeiten zu finden, einfach höher als bei einem Andreas oder Thomas - also bei Namen, die in dieser Zeit nicht so oft vergeben wurden." Tatsächlich gehörte der Vorname Kevin in den 90er Jahren in vielen Bundesländern zu den zehn beliebtesten Vornamen.
Der Name Kevin ist besser als sein Ruf
Außerdem wäre es falsch, bestimmten Vornamen dauerhaft das Prädikat Unterschichten-Namen anzuhängen. Denn nur weil Namen eine Zeitlang in eine bestimmte Schublade gesteckt werden, heißt das nicht, dass sie schon immer so wahrgenommen wurden und in einigen Jahren noch genauso beurteilt werden. Das beste Bespiel ist der Name Kevin selbst. Was nur wenige wissen: Der Name, der auf die irische Form "Caoimhín" zurückgeht, bedeutet "hübsch und gut geboren". In Deutschland tauchte Kevin das erste Mal in den 50er Jahren auf. Damals sowie in den 60er Jahren wurde der Name nur vereinzelt vergeben - und zwar hauptsächlich von gebildeten Familien. Von mittleren und unteren sozialen Schichten wurde der Name erst vergeben, als er Anfang der 90er durch Kevin Costner, der sich zu dieser Zeit auf dem Zenit seines Ruhms befand, und natürlich durch "Kevin allein zu Haus" auch hierzulande salonfähig wurde.
Gabriele Rodriguez ergänzt: "Vom Lautlichen her ist Kevin sogar ein sehr schöner Name. Mit den Vokalen e und i ist in dem Namen alles enthalten, was als wohlklingend empfunden wird. Und der Wohlklang ist in Deutschland schließlich das Hauptkriterium bei der Namenswahl." Man sieht: Der Vorname Kevin ist besser als sein Image. Ähnlich verhält es sich bei Namen wie Jeremy, Jason, Simon oder Jonathan, die oft - englisch ausgesprochen - zurzeit ebenfalls in bildungsfernen Schichten beliebt seien, wie Rodriguez erläutert. Ihr Ursprung ist allerdings in allen diesen Fällen biblisch. Dadurch, dass die Unterschichten sich stark an den USA orientierten und dort biblische Namen traditionell populär seien, hätten diese Vornamen nun auch verstärkt ihren Weg nach Deutschland gefunden, so Rodriguez. Um grundsätzlich negativ besetzte Namen handelt es sich dabei aber keinesfalls.
Wenn Namen das ganze Leben beeinflussen
Auch wenn sich die Kinder dem Ruf ihres Vornamens kaum selbst bewusst sein sollten, kann die Namenswahl aber trotzdem zu einem Problem werden. "Es deutet sich immer mehr an, dass man hier Leute wie in Amerika über ihre Vornamen definiert", sagt Rodriguez. "Auch in Deutschland gibt es Entwicklungen dahin, dass Arbeitgeber Bewerber mit bestimmten Vornamen direkt aussortieren." Rodriguez berichtet von einem Fall, in dem ein junger Mann mit türkischem Hintergrund eine Namensänderung anstrebte, weil er befürchtete, dass er nur aufgrund seines Namens Ali keine Aufträge erhält - ob Namensvorurteile rassistisch motiviert sind oder auf Schichtzugehörigkeiten beruhen, beim Umgang mit Vornamen scheinen sich gefährliche Tendenzen in Deutschland abzuzeichnen.
Das Comeback der Ottos und Carls lässt hoffen
Gabriele Rodriguez betont, dass es ein "kollektives Namenbewusstsein" gebe: Studien haben ergeben, dass Menschen in Deutschland bestimmte Namen kollektiv als zum Beispiel jung, dynamisch oder attraktiv und andere als alt, dumm oder unattraktiv ansehen. Allerdings fügt die Namensberaterin hinzu, dass sich diese Wahrnehmung auch wieder verändern könne. Nachdem in den letzten Jahren in höheren sozialen Schichten altdeutsche Vornamen wie Heinrich, Friedrich, Wilhelm oder Carl eine Renaissance feiern konnten, werde beispielsweise der Name Otto für ein Kind von vielen wieder "als niedlich" empfunden. Das war vor einigen Jahren noch undenkbar und lässt vermuten: Auch für unsere Kevins und Chantals besteht noch Hoffnung.
Bei Fragen zum Thema Vornamen gibt die Namensberatungsstelle der Universität Leipzig Auskunft: www.vornamenberatung.eu