Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Hajo Schumacher "Teufelszeug Testosteron"
Was macht den Mann zum Mann? Na klar, das böse Hormon, das Männer Kriege führen und Frauen vergewaltigen lässt. Aber so einfach ist es nicht. Warum gerade junge Männer mehr Verständnis brauchen, wenn Testosteron den Körper flutet, erklärt Hajo Schumacher in seinem neuen Buch "Männerspagat".
Wer Männer diskreditieren will, braucht nur ein Wort: "testosteron-gesteuert". Die Übersetzung lautet: Bestie, Kontrollverlust, Triebtäter. Basta. Das sogenannte Männerhormon markiert einen der wenigen messbaren biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau. Männer haben im Schnitt eine etwa zehnfach höhere Testosteronkonzentration im Blut, wenn auch mit gewaltigen biografischen Wellen. Bislang galt als ausgemacht, dass Testosteron vor allem für unkontrollierte Geilheit und entfesselte Aggression sorgt.
Zwischen "Überlebenselixier" und "Teufelszeug"
Doch tatsächlich sind die komplexen Wirkungen noch längst nicht vollständig erforscht. Das Faszinierende am Testosteron ist seine Vielseitigkeit. Wissenschaftler finden unentwegt neue Merkmale, beileibe nicht alle böse, die auf einen unbestrittenen Fakt hinweisen: Es handelt sich um ein Überlebenselixier. Testosteron kann Männer aggressiv machen, auf jeden Fall aber kräftig, weil es den Muskelaufbau fördert und deswegen gern als Dopingmittel genommen wird. Testosteron sorgt nach neueren Studien aber auch für Empathie und Kooperationsbereitschaft, es kann Großzügigkeit und Integrität steigern. Warum? Weil das Überleben nicht mit Kriegen und Konflikten zu sichern ist, sondern mit der Fähigkeit zur empathischen Kooperation.
Als ich in "den besten Jahren" war, also in dem Alter, da die Angst vor Krebs den Mann endlich zum Urologen treibt, kam ich dem Testosteron zum ersten Mal näher. Der Doktor prüfte den Pegel. Deutlich unter dem Durchschnitt. War das jetzt gut oder schlecht? Und vor allem: Wie mögen sich erst Männer mit einem hohen Testosteronwert fühlen, wenn ich schon den Eindruck hatte, dass mir das Teufelszeug an einigen Kreuzungen des Lebens zuverlässig den falschen Weg gewiesen hatte?
Die Macht des Männerhormons
Die Macht des Testosterons hat so ziemlich jeder Knabe am eigenen Leib gespürt, diesen düsteren Drang, die blinde Lust. Sobald der mächtige Stoff den adoleszenten Körper flutet, gerät einiges durcheinander, auch bei mir. Es fühlte sich an, als hätte das Hormon den Fahrersitz gekapert und träte ständig aufs Gaspedal. Ich erinnere mich an Teenager-Jahre, in denen ich hirnlos sabberte, weil Ingrid Steeger, Samantha Fox oder Sibylle Rauch unkontrollierte Erektionen hervorriefen, immer an unpassenden Orten in unpassenden Momenten. Bisweilen reichte ein Strumpf, ein Blick, eine Rundung, ein Absatz, der höher als zwei Zentimeter war, um mich in ein debil starrendes Frettchen zu verwandeln. Ich war gleichsam überwältigt und gefangen in einer Erregungswoge. Unerbittlich trat das Hormon aufs Gas.
"Grausame Geilheit" heißt ein bemerkenswert offener Aufsatz des Schriftstellers Anselm Neft in der Zeit. Er schreibt von dieser gierigen, verklemmten, hektischen Jungssexualität, von der widersprüchlichen Lust, ausgerechnet die zu erniedrigen, die man so begehrte und dem schlechten Gewissen deswegen, von der Pornografie, die schnell, zuverlässig, schamlos, konsequenzlos bediente, was in der Realität so kompliziert und nicht immer erfüllend war. Ich habe mit einigen Frauen über das Testosteron-Regime gesprochen, und alle waren verblüfft. Natürlich empfinden Frauen Lust und Geilheit, aber nicht dieses Jetzt-unbedingt-sofort-und-immer-wieder-Müssen. Das haben wir Männer wohl exklusiv.
Selbstbefriedigung gegen das Schamgefühl
Dazu die vielen Tabus. Nichts hätte ich als junger Mann dringender gebraucht als eine gütige Mutter, die mich einfach nur im Arm hält. Zugleich war nichts verletzender als das Label „Muttersöhnchen“. So viele Bedürfnisse, so viel Scham, darüber zu reden, so viel Scheitern am eigenen Heldenbild – und als Entlastung immer wieder Selbstbefriedigung. Offenbar gibt es Zeitgenossen, die so häufig vor dem Rechner onaniert haben, dass sie in keiner anderen Position mehr zum Höhepunkt kommen können. Pornos, so Anselm Neft, bedeuten einen permanenten "Tanz um unsere tiefsten Wunden".
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Junge Männer als Inbegriff von Gefahr
Die unheimliche Macht des Testosterons zeigt ein Blick in die Kriminalstatistiken. Was haben Terror, rechtsradikale Schlägereien, Hooligan-Ausfälle, G20-Keilereien, ein großer Teil von Verkehrsunfällen, IS, NSU, Schulmassaker, aber auch WM-Siege und Goldmedaillen gemeinsam? Es sind überwiegend junge Männer beteiligt, die in einer Mischung aus Blutrausch und Todessehnsucht, unbändigem Willen und epischer Leidensbereitschaft jede Grenze überschreiten, auch wenn oder gerade weil sie dafür sterben könnten.
Zu allen Zeiten und in allen Kulturen galt der heranwachsende Mann als Inbegriff von Kraft, aber auch von Unerbittlichkeit, kurz: Gefahr. Wer kämpfte in Stalingrad und Verdun, bis die Füße abfaulten? Wer hat an Silvester Spaß, mit Raketen auf zu schießen? Wer säuft sich ins Koma? Wer bevölkert die Gefängnisse? Wer tätowiert sich empfindlichste Körperstellen? Es sind die gleichen, die die Odyssee bestehen, Sauron besiegen und Drachen töten, die Wimbledon gewinnen oder das finale WM-Tor erzielen, auch jene, die durch halb Afrika rennen, um im Mittelmeer zu ertrinken oder im Stacheldraht zu enden. Junge Männer sind schmerzfrei an Leib und Seele, zu allem entschlossen, im besten wie im schlechtesten Sinne.
Männlichkeit in der Urgeschichte und Moderne
In archaischen Kulturen wurde die zerstörerische Urgewalt der Jungen mit Initiationsriten zu kanalisieren versucht, mit ausgefeilten und oft brutalen Ritualen. Junge Männer werden ohne Betäubung beschnitten, stürzen sich mit Lianen an den Füßen von klapprigen Holztürmen, müssen wilde Tiere erlegen, hungern oder sich eingebuddelt von Riesenameisen zerbeißen lassen. Torturen, inhuman und menschenverachtend, aber auch ein Hinweis, wie stark der Reiz sein muss, um potenzielle Testosteronbomben zu domestizieren. Das Aushalten, Durchbeißen, Verzweifeln und Wiederaufrappeln beweist dem Stamm, dass der Novize bereit ist, jegliche Entbehrung auf sich zu nehmen. "Zeit zu sterben", sagt der Häuptling eines Amazonas-Stammes im Film Der Smaragdwald, bevor ein Junge erst gefoltert und dann unter halluzinogene Drogen gesetzt wird, um sein Krafttier zu entdecken. Danach ist er ein Mann.
In unserer aufgeklärten Gesellschaft wird der Übergang vom Jungen zum Mann bestenfalls mit Ritualersatz betrieben. Der Junggesellenabschied, Konfirmation und Jugendweihe haben aber nicht die Kraft, den neuen Lebensabschnitt mit seiner Verantwortung zu manifestieren. Es ist ein frisches Zeichen für gesellschaftlichen Wandel, dass junge Künstler wie der Liedermacher Faber erfrischend offen über die permanente Geilheit des Jungmanns singen, hart, ehrlich und überhaupt nicht frauenfeindlich. Es gehe ihm nicht um Männer oder Frauen, sondern einfach nur um schmutzige Gefühle, hat der Schweizer seine Kritikerinnen gelassen wissen lassen. Testosteron verliert viel seiner unheimlichen Macht, wenn wir uns trauen, darüber zu reden. Erst dann ist moderne Männlichkeit möglich.
- Hajo Schumacher: "Männerspagat"