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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Energiewende So riskant ist das neue Öko-Siegel für Gas und Atomkraft
Das EU-Parlament drückt zwei umstrittenen Energiequellen den grünen Stempel auf. Antworten auf die wichtigsten Fragen zum folgenschweren Beschluss aus Brüssel.
Die Kernkraft strahlt ab sofort in Grün. Und auch ums Erdgas wabert ein grüner Schimmer. Dafür hat die Mehrheit im Europaparlament gesorgt: 328 EU-Abgeordnete stimmten am Mittwochmittag dafür, dass Investitionen in Gas und Atomenergie als umweltfreundlich gelten sollen. Trotz teils großer Bedenken wegen der fragwürdigen Klimabilanz von Gas und der ungelösten Atommüllproblematik.
Dennoch heißt es seitens der EU nun: Wer sein Geld in Erdgasprojekte oder in die Atomkraftbranche steckt, tut dem Planeten etwas Gutes. Umweltverbände, mehrere EU-Mitgliedsstaaten und auch die deutsche Fondsbranche kritisieren die Entscheidung scharf. t-online beantwortet die drängendsten Fragen zur Entscheidung aus Brüssel und erklärt, welche Folgen das neue Öko-Finanzsiegel für die Energiewende haben könnte.
Was hat das EU-Parlament entschieden?
Atomkraft und Erdgas gelten ab 2023 offiziell als grüne Brückentechnologien, mit deren Hilfe die Energiewende möglich werden soll. Zahlreiche Atom- und Gasprojekte erhalten dadurch einen Platz im nachhaltigen Finanzkompass der EU, der sogenannten EU-Taxonomie. Konkret heißt das: Wer sein Erspartes umweltfreundlich anlegen will, bekommt bei der Beratung in der Bank dann auch Aktien oder Fonds empfohlen, die die Nutzung von Kernkraft und Erdgas unterstützen.
Jedoch orientieren sich nicht nur Kleinanleger am Öko-Siegel für Finanzprodukte. Die Taxonomie schreibt vor allem Banken, Versicherungen, Pensionsfonds, Investmentfirmen und Vermögensverwaltern vor, welche Aktivitäten sie ihren Kunden als grün verkaufen dürfen – und welche nicht.
Wieso ist das eine so große Sache?
Ein Blick auf die Höhe der Privatvermögen unterstreicht, wie weitreichend der neue grüne Stempel für Gas und Atom ist. Allein in Deutschland sind es 16,4 Billionen Euro; viel finanzielles Gewicht, das sich durch die Ausweitung der Taxonomie nicht mehr nur zunehmend hinter grüne Wasserstoff-, Solar- und Windkraftprojekte stellen wird. Sondern auch hinter Erdgas und Kernenergie.
Zwar sollen entsprechende Investitionen nur so lange als grün gelten, bis die erneuerbaren Energien den allergrößten Teil des Energiebedarfs decken können. Doch das dürfte noch Jahrzehnte dauern.
Warum ist die Kennzeichnung umstritten?
Tatsächlich können Wind, Fotovoltaik und grüner Wasserstoff noch in keinem EU-Mitgliedsstaat den Energiebedarf decken. Die Lücke wird, entsprechend der Präferenz eines Landes, vor allem mit Erdgas (wie in Deutschland) oder Atomkraft (wie in Frankreich) gefüllt. Der Schritt, diesen Energiequellen deshalb ein grünes Etikett zu verpassen, ist allerdings höchst umstritten. Klima- und Umweltschützer sprechen von Grünfärberei.
So entsteht bei der Verbrennung von Erdgas zwar weniger klimaschädliches CO2 als bei Kohle. Aber gerade bei der Förderung und beim Transport von Gas entweichen große Mengen Methan – ebenfalls ein Treibhausgas, dessen Wärmewirkung sogar noch stärker ist als beim bekannteren CO2.
Entscheidung entgegen Rat der Experten
Sowohl der Weltklimarat als auch die Internationale Energieagentur haben deshalb wiederholt klargemacht, dass jede Investition in neue Gas-Infrastruktur die Klimakrise wahrscheinlicher eskalieren lässt. Genau hierfür bietet das grüne Kennzeichen der EU-Taxonomie nun aber einen Anreiz.
Ähnlich sieht es bei der Kernenergie aus. Obwohl Atomkraftwerke klimafreundlichen Strom liefern, stellen sie für die Umwelt eine Gefahr dar. Selbst in den modernsten und sichersten Meilern entsteht Atommüll, mit dem sich laut Einschätzung von Experten noch 30.000 Generationen befassen müssen. Eine verlässliche Lösung ist für die strahlenden Abfälle noch nicht gefunden.
Gelder auf Um- und Abwegen
Angesichts des großen Investitionsbedarfs bei den Erneuerbaren fürchten Umweltverbände, dass dringend benötigte Gelder nicht im nötigen Umfang dort ankommen. Sie sehen die Taxonomie als riskante Weiche, die essenzielle Finanzmittel in Technologien wie Erdgas umleitet, die mittelfristig auslaufen müssen.
Neben Umweltverbänden, Klima- und Energieexperten hatten auch mehrere Banken und Fondsgesellschaften davor gewarnt, Gas und Atomkraft für nachhaltig zu erklären. Die Finanzbranche fürchtet, dass der lang ersehnte europaweite Standard durch die Neuzugänge unglaubwürdig wird. Außerdem gibt es Warnungen, dass die Abhängigkeit der EU-Staaten von russischem Gas sich nun noch verschärfen könnte.
Während beispielsweise Deutschland mit Nachdruck Terminals für Flüssiggas (LNG) baut, um vom russischen Pipeline-Gas wegzukommen, sind solche LNG-Projekte laut Taxonomie nicht nachhaltig. Der Bau neuer Gaskraftwerke, die russisches Gas verbrennen, gilt nun jedoch als grün.
Wer kann das Öko-Siegel noch stoppen?
Das grüne Licht für Gas und Kernkraft schien zuerst in der Europäischen Kommission auf. Von hier stammt die kontroverse Idee. Nun, da das EU-Parlament den Vorschlag abgenickt hat, bleiben kaum noch Chancen, an der Taxonomie zu rütteln. Allein der Widerstand von 20 der 27 Mitgliedsstaaten könnte das Vorhaben noch aufhalten. Doch das scheint so unwahrscheinlich, dass bisher keine entsprechende Abstimmung im EU-Rat angesetzt ist. Bleibt noch der Weg vor Gericht.
Die Umwelt- und Klimaschutzorganisationen WWF, Greenpeace und Client Earth haben bereits angekündigt, die EU-Kommission verklagen zu wollen – die Taxonomie gefährde die Pariser Klimaziele, zu deren Einhaltung sich auch die Kommission verpflichtet hat. Auch einige Abgeordnete des Europaparlaments überlegen, die Entscheidung anzufechten.
Die EU-Mitglieder Österreich und Luxemburg kündigten bereits im Januar an, die Kommission vor Gericht zu bringen, falls ihr Vorstoß es durch das Parlament schaffen sollte. Sie berufen sich darauf, dass die wissenschaftliche Begründung des grünen Stempels für Gas und Atomkraft nicht solide sei und die Kommission eine so weitreichende Entscheidung nicht mithilfe eines niedrigschwelligen Rechtsaktes durchboxen dürfe.
- Eigene Recherche
- GSSC Briefing vom 06. Juli 2022: "Europaparlament stimmt für Gas und Atom in der Taxonomie"
- Mit Material der Nachrichtenagenturen Reuters und dpa
- Pressemitteilung der Bürgerbewegung Finanzwende vom 6. Juli 2022: "Statement zur Taxonomie – Desaster für nachhaltige Finanzmärkte"
- Pressemitteilung des WWF vom 6. Juli 2022: "EU-Parlament opfert die Glaubwürdigkeit der EU-Taxonomie"
- Pressemitteilung des European Environmental Bureau vom 6. Juli 2022: "EU credibility crippled after MEPs accepted calling gas and nuclear green, NGOs says"