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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Klimaschutz "Wenn es so weiterläuft, treibt die Erde in die Hitze-Apokalypse"
Entwicklungsminister Gerd Müller und Ökonomin Claudia Kemfert fordern eine neue Allianz zwischen Europa und Afrika: Nur so könne die Klimakatastrophe abgewendet werden.
Die Zeit für den Klimaschutz wird langsam knapp. Sieben Jahre bleiben noch, um das im Pariser Klimaabkommen festgesteckte Zwei-Grad-Ziel zu erreichen. Entwicklungsminister Gerd Müller und Wissenschaftlerin Claudia Kemfert rufen zum Handeln auf – nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch auf privater.
Allerdings entscheidet sich ihrer Meinung nach die Zukunft des Klimas nicht in Deutschland, sondern in Afrika. Im Interview mit t-online erklären Kemfert und Müller, warum diesem Kontinent eine Schlüsselrolle im Kampf gegen den Klimawandel zukommt und was sie aus der Corona-Pandemie für die Bewältigung der Klimakrise gelernt haben.
t-online: Herr Müller, Frau Kemfert, die Gletscher schmelzen immer schneller, in Australien brennen die Wälder ab. Der Kampf gegen den Klimawandel läuft nicht sehr erfolgreich. Wann ändert sich das?
Gerd Müller: Lassen wir die Entwicklung so weiterlaufen, dann kommt unser Planet an den Rand der Hitze-Apokalypse. 20 Millionen Menschen mussten schon aus Dürreregionen fliehen, weil sie keine Lebensgrundlage mehr haben. Aber wir können noch umkehren. Jetzt ist der Zeitpunkt dafür.
Das heißt es von der Bundesregierung seit Jahren. Doch das Ziel, die Erde sich nur um zwei Grad Celsius erhitzen zu lassen, wird nach aktuellen Prognosen nicht einzuhalten sein.
Müller: Das Pariser Klimaabkommen 2015 war ein großartiger Erfolg. Aber nur 8 der 193 Staaten sind auf Kurs. Und selbst wenn alle Staaten ihre Klimaziele einhalten, reicht das nicht aus, um die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen. Wir brauchen zusätzliche Initiativen, um einen Anstieg auf drei Grad zu verhindern.
Und die Drei-Grad-Marke statt der geplanten Zwei-Grad-Marke einzuhalten, wäre für Sie dann ein Erfolg?
Claudia Kemfert: Für guten Klimaschutz braucht es Realismus. Klimaforscher haben seit Jahrzehnten gewarnt, dass der Klimawandel so eintritt, inklusive aller Kipppunkte. Wenn wir jetzt nicht handeln, dann werden es sogar vier, fünf oder sechs Grad mehr. Aber im Pariser Klimaabkommen haben wir zwei Grad als Ziel festgeschrieben. Dafür bleiben uns noch etwa sieben Jahre, wenn wir jetzt endlich anfangen, und zwar richtig!
Müller: Wissen allein genügt nicht. Wir müssen handeln!
Was schlagen Sie vor?
Müller: Die größte Chance, um den Planeten klimaneutral zu machen, liegt hinter dem Mittelmeer: in Afrika. Die Hälfte der Bevölkerung dort – 600 Millionen Menschen – hat keinen Zugang zu Elektrizität. Wenn sie alle eine Steckdose auf Basis von Kohle bekommen, müssten Hunderte neue Kohlekraftwerke gebaut werden. Gehen diese Klimakiller alle ans Netz, erreichen wir die Klimaziele nie! Die Antwort muss eine Investitionsoffensive Europas sein, damit Afrika nicht der schwarze Kontinent der Kohle, sondern der grüne Kontinent der erneuerbaren Energie wird. Wir haben eine besondere Verantwortung dazu: Nicht die Menschen in Afrika haben die Erderwärmung ausgelöst. Sondern wir in Europa, in Nordamerika und in Teilen Asiens: mit Autos, Fabriken und Müll. Deswegen müssen wir Afrika bei der Energiewende auch unterstützen.
Claudia Kemfert, Jahrgang 1968, ist Wissenschaftlerin für Energie- und Klimaökonomie. Sie leitet am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt. In ihrem Buch "Mondays For Future" gibt sie Antworten auf die wichtigsten Fragen rund um den Klimaschutz.
Gerd Müller, Jahrgang 1955, ist seit 2013 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Er setzt sich besonders für den Chancenkontinent Afrika ein. Im Frühjahr erschien sein Buch "Umdenken – Überlebensfragen der Menschheit".
Warum hat Afrika solch eine Schlüsselrolle inne?
Müller: Weil in 30 Jahren auf einen Europäer fünf Afrikaner kommen werden. Dann gibt es bevölkerungsmäßig nur noch ein winzig kleines Europa. Allein bis zum Jahr 2050 verdoppelt sich die Bevölkerungszahl in Afrika, nirgendwo wächst die Bevölkerung so stark wie dort. Die EU muss endlich die Bedeutung Afrikas für den Klimaschutz erkennen. Europas Green Deal wirkt aber nur nach innen. Er muss dringend um eine Afrika-Komponente ergänzt werden. Wir müssen Entwicklung viel stärker als Investition auch in unsere eigene Zukunft sehen.
Kemfert: Diese wachsende Anzahl von Menschen wird, wenn der Klimawandel nicht aufgehalten wird, keine Lebensbedingungen auf diesem Kontinent mehr vorfinden. Die Energiewende vor Ort schafft Wohlstand und sorgt dafür, dass die Menschen nicht zu Klimaflüchtlingen werden müssen.
Was läuft in Afrika aus Ihrer Sicht schief?
Kemfert: Im Moment machen afrikanische und andere Schwellen- und Entwicklungsländer nach, was wir vorgemacht haben. Sie setzen auf fossile Energien, um die Entwicklung schnell voranzutreiben.
Müller: Vor 70 Jahren gab es ein Bild für das wirtschaftlich boomende Nachkriegsdeutschland: qualmende Schlote im Ruhrgebiet. Wirtschaftlich ging es bergauf, für den Klimaschutz ging es bergab. Diesen Fehler können wir in Afrika vermeiden. Die afrikanischen Länder können 70 Jahre technologisch überspringen und ihre Wirtschaft mit grüner Energie antreiben.
Kemfert: Das kann ganz praktisch geschehen mit der Nutzung von Solar-, Wind- und Wasserkraft und modernster Technologie aus Europa. Wenn sich in Afrika der Aufbau nachhaltiger Energie durchsetzt, kämen wir dem Ziel, den Klimawandel einzudämmen, schon deutlich näher. Gleichzeitig würde die wirtschaftliche Entwicklung auf dem Kontinent gefördert.
Auf dem afrikanischen Kontinent entstehen gerade 450 neue Kohlekraftwerke. Die Betreiber werden bei Ihren Plänen keine Jubelsprünge machen.
Müller: Wir müssen den Investoren klar sagen: investiert besser in Solar- statt in Kohlekraft. Das sind gewaltige Chancen zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen und zur Rettung des Klimas. Die europäische Wirtschaft könnte sich so einen vollkommen neuen Zukunftsmarkt erschließen. Deswegen sage ich immer: auf nach Afrika.
Kemfert: Hinzu kommt: Die Energiewende ist das beste Friedensprojekt, das wir weltweit haben. Die erneuerbaren Energien sind dezentral. Die Menschen können sich eine Solaranlage auf ihr Dach schrauben und haben sofort Strom. Das wiederum ermöglicht weitere Geschäftstätigkeiten. So entsteht Wohlstand vor Ort. Natürlich wäre es notwendig und klug, dass die EU in solches Wachstum investiert.
Also ist Ihr Ansatz zur Rettung des Weltklimas: Auf jedes Dach in Afrika werden Solarzellen geschraubt — und die Europäische Union bezahlt das. Korrekt?
Müller: Das ist mir zu sehr zugespitzt. Richtig ist: Schon heute gibt es Solaranlagen in Ägypten oder Marokko, die mit Unterstützung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gebaut wurden. Mittlerweile kann ein Kilowatt Strom für zwei Cent erzeugt werden. Das wäre vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen! In Marokko bauen wir jetzt die erste Anlage, um mit der Sonne Afrikas günstig grünen Wasserstoff und Methanol zu produzieren. Das Potenzial ist riesig: Grüner Wasserstoff aus Afrika kann zum sauberen Öl von morgen werden.
Kemfert: Es braucht jedoch nicht nur ein Umdenken in Afrika. Die Wende in der Klimakrise kann lediglich mit starker Unterstützung aus Europa und Deutschland gelingen. Wir müssen die Afrikaner mit Kapital, Technologie und Know-how unterstützen. Als Vorreiter sollten wir der Welt demonstrieren: Auch durch grüne Energie kann Wohlstand generiert werden!
Also muss Europa ein positives Vorbild für Afrika werden?
Müller: Exakt. Es ist wichtig, hier in Klimaschutz zu investieren. Aber es muss sich auch die Erkenntnis durchsetzen: Wir retten das Weltklima nicht allein in Deutschland. 98 Prozent des CO2-Ausstoßes findet außerhalb Deutschlands statt. Vorreiter beim Klimaschutz zu sein, bedeutet auch massiv in eine globale Energiewende zu investieren.
In Deutschland sind bereits viele Menschen Vorreiter, sie gestalten ihr Leben oder ihr Unternehmen klimafreundlich – und die Zahl von ihnen steigt.
Kemfert: Stimmt, und das ist erfreulich. Trotzdem herrscht teilweise noch die Mentalität vor, dass die Verantwortung allein beim Staat liegt und dass man wie gewohnt weiterlebt, bis ein Klima-Gesetz alle zum klimagerechten Handeln zwingt. Das ist leider nicht genug. Mir ist egal, was die Leute fürs Klima tun, Hauptsache, sie tun etwas. Das betrifft nicht allein das Konsumverhalten. Die Menschen können ihren Arbeitgeber auffordern, Konferenzen und Dienstreisen klimabewusst zu organisieren, oder in ihrem Verein anregen, Ökostrom zu beziehen.
Müller: Das ist der Punkt: Wir brauchen ein Umdenken. In Politik, Wirtschaft und auch im Alltag. Hier setzt unsere "Allianz für Entwicklung und Klima" an, die jedem Bürger, jedem Unternehmen, jeder Behörde ermöglicht, sich klimaneutral zu stellen. Die Emissionen, die sich nicht vermeiden lassen, werden mit Klimaschutzprojekten in Entwicklungsländern kompensiert. Das Entwicklungsministerium ist schon klimaneutral. Alle Ministerien und Bundesbehörden sollten sich anschließen.
Welche Rolle spielt die Corona-Pandemie bei der Bewältigung der Klima-Krise?
Kemfert: Es wäre naiv zu denken, dass jetzt alles weniger schlimm wird, nur weil einige Monate weniger Rauch aus den Fabriken qualmte und weniger Autos unterwegs waren. Trotzdem hat die Pandemie bewiesen: Radikale Änderungen im Verhalten und in der Wirtschaft sind möglich – auch in kürzester Zeit.
Müller: Und es zeigte sich viel Solidarität. Das macht ja Mut, dass wir auch beim Klimaschutz noch die Kurve bekommen.
Einer, dem das Klima offenbar egal ist, ist der amerikanische Präsident. Welche Folgen hätte seine Wiederwahl für die globale Erderwärmung?
Müller: Trump hat das Pariser Klimaabkommen aufgekündigt, das stimmt. Aber das Weiße Haus ist nicht gleichzusetzen mit den USA. In vielen Bundesstaaten wird bereits viel für den Klimaschutz getan, unabhängig vom Präsidenten.
Kemfert: Klimaschutz in den USA findet trotz Trump statt, die Emissionen sinken, ein "Zurück zur Kohle" gibt es nicht, da in den USA Marktwirtschaft vorherrscht und erneuerbare Energien billiger sind als fossile Energien. Der bevorstehende US-Wahlkampf wird ein Klimawahlkampf. Für mich ist das Ergebnis noch völlig offen. Vielleicht kann Joe Biden deutlich machen, dass unsere Welt kurz vor dem Hitzekollaps steht, wenn nicht bald etwas passiert.
Frau Kemfert, Herr Müller, wir danken Ihnen für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Gerd Müller und Claudia Kemfert am 23. September 2020