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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Entwicklungsminister Müller "Es droht eine dramatische Hungerkrise"
In Ostafrika ist Corona nicht die einzige Krise. Neben Kriegen und jahrelangen Dürren plagen Abermillionen Heuschrecken die Region. Es droht eine verheerende Hungersnot, erklärt Entwicklungsminister Müller im Interview mit t-online.de.
Weltweit versetzt die Corona-Pandemie Menschen in existentielle Nöte. In den USA haben seit Beginn der Pandemie 33 Millionen Menschen Arbeitslosenhilfe beantragt und auch in Deutschland reagiert die Politik mit Soforthilfen und Konjunkturmaßnahmen. Doch in zahlreichen Regionen der Welt ist das Virus nur eines von vielen Problemen. Kriege und die Folgen von Naturkatastrophen könnten in einer verheerenden Hungerkrise gipfeln.
In Ostafrika verlieren Bauern und Viehwirte zudem durch eine Heuschreckenplage ihre Ernte und Weiden für ihr Vieh. Schon jetzt steigen die Lebensmittelpreise und Hilfsorganisationen warnen, dass sich die Plage bis nach Westafrika ausbreiten wird. Die Krise könnte jahrelang andauern – neben Hunger drohen weitere gewalttätige Auseinandersetzungen, erklärt Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) im Interview mit t-online.de.
t-online.de: Wie schlimm sind die Menschen in Ostafrika betroffen?
Gerd Müller: Die Menschen sind von einer dramatischen Doppel-Krise betroffen: Ostafrika wird von der schlimmsten Heuschreckenplage seit Jahrzehnten heimgesucht. Gleichzeitig ist die Corona-Pandemie längst zu einer weltweiten Ernährungskrise geworden. Über eine Milliarde Kinder können nicht zur Schule gehen und viele verlieren so die einzige warme Mahlzeit am Tag. Millionen Menschen verlieren von einem Tag auf den anderen ihren Job und stehen auf der Straße ohne einen Cent Einkommen oder Grundsicherung. Produkte gelangen nicht mehr auf die Märkte, Landarbeiter nicht aufs Feld. Ganze Ernten können ausfallen, weil Saatgut knapp wird.
Welche Folgen befürchten Sie?
Es droht eine dramatische Hungerkrise. Das Welternährungsprogramm rechnet damit, dass in 36 Ländern Hungersnöte ausbrechen, die meisten davon liegen in Afrika. Bereits jetzt hungern dort 250 Millionen Menschen – das ist jeder fünfte Mensch! In Ostafrika ist es sogar jeder Dritte.
Diese Krise hat sich in den letzten Jahren bereits aufgebaut – der Klimawandel hat dazu geführt, dass Millionen Menschen ihre Heimat verloren haben. In der Sahel-Region hat es an manchen Orten jahrelang nicht geregnet. Für viele geht es ums blanke Überleben. Corona verschärft die Situation weiter. Es kommt zu Hunger, Not und Unruhen. Terroristische Gruppierungen nutzen das im Sahel bereits gezielt aus.
Und jetzt kommen noch Heuschrecken dazu?
Leider ist das so. Im Schatten der Coronakrise droht die Heuschreckenplage zum jahrelangen Problem zu werden. Es können kaum Personal und Material zur Bekämpfung eingesetzt werden und schon bald sind nicht mehr ausreichend Insektizide vorhanden. In den kommenden Wochen entscheidet auch das Wetter maßgeblich mit. Das feuchte Wetter in der Regenzeit schafft gute Brutbedingungen und die Heuschrecken verbreiten sich durch den starken Wind viel leichter.
Gibt es Gebiete, in denen es besonders schwierig ist?
Besonders schwierig ist die Lage in Äthiopien, Kenia und Somalia. Somalia hat den Notstand ausgerufen. Millionen Heuschrecken fressen dort die Felder kahl. Das heißt: Keine Nahrung, kein neues Saatgut, kein Viehfutter. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO geht davon aus, dass fünf Millionen Menschen nur aufgrund der Heuschrecken-Plage von Hunger bedroht sind. Insgesamt droht in der Region über 25 Millionen Menschen eine Hungersnot. Das ist die Bevölkerung von Bayern, Baden-Württemberg und Hamburg zusammen.
Was muss passieren, um die Plage jetzt noch einzudämmen?
Die Weltgemeinschaft hat bereits reagiert und 120 Millionen US-Dollar zusätzlich zur Bekämpfung der Heuschreckenplage bereitgestellt. Deutschland hat sich mit 20 Millionen Euro beteiligt. Zusätzlich verstärken wir die Ernährungssicherung in Ostafrika mit unseren Entwicklungsmaßnahmen und stellen dieses Jahr dafür fast 70 Millionen Euro bereit. Aus unseren 15 Grünen Innovationszentren in Afrika und Indien heraus verstärken wir auch die Bereitstellungen von Saatgut, Dünger und Pflanzenschutz für die kommenden Ernten.
Nun sind viele Menschen aber auch von der Pandemie betroffen...
Parallel setzen wir ein weltweites Corona-Sofortprogramm mit über einer Milliarde Euro um. Jeden fünften Euro investieren wir in die Bekämpfung des Hungers – vor allem in den Flüchtlings- und Krisenregionen. Dazu arbeiten wir eng mit dem Welternährungsprogramm und dem Kinderhilfswerk UNICEF zusammen.
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Reicht das? Kommt die Hilfe zu spät?
Nein, das wird alleine nicht reichen, um der Krise zu begegnen. Gemeinsam mit Hilfsorganisationen haben wir einen weiteren Sofortbedarf von drei Milliarden Euro für Nothilfen zur Eindämmung der Corona-Krise ermittelt. Diese Mittel habe ich für den Nachtragshaushalt 2020 bei Finanzminister Olaf Scholz angemeldet. Uns muss allen klar sein: Jetzt ist die Stunde der internationalen Solidarität. Auch die EU und die internationale Gemeinschaft müssen den am härtesten betroffenen Menschen noch viel stärker helfen. Die Heuschreckenplage und die Corona-Krise dürfen nicht zu Hunger, Not, Vertreibung und am Ende unkontrollierbaren Flüchtlingsbewegungen führen.
Herr Müller, vielen Dank für das Interview.