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Zum journalistischen Leitbild von t-online.BA.5 auf dem Vormarsch Verhagelt uns die neue Corona-Variante den Sommer?
Deutschland in der ersten Corona-Sommerwelle? Die ansteckendere Omikron-Variante breitet sich auch bei uns aus. Ein Experte schätzt ein, was uns in den nächsten Monaten drohen könnte.
In seinem letzten Wochenbericht warnte das Robert Koch-Institut (RKI) vor der Ausbreitung zweier neuer Subtypen der Omikron-Variante des Coronavirus: BA.4 und BA.5. Letzterer sorgt vor allem in Portugal derzeit für sehr hohe Infektionszahlen.
Das RKI mahnt: Erwartet werde, dass sich die Subvarianten stärker verbreiten, "sodass es auch insgesamt zu einem Anstieg der Infektionszahlen und einem erneut verstärkten Infektionsdruck auf vulnerable Personengruppen schon im Sommer kommen kann." Droht uns eine Sommerwelle? Der Epidemiologe Markus Scholz beantwortet die drängendsten Fragen:
t-online: Herr Scholz, wie gefährlich kann uns BA.5 werden?
Markus Scholz: Nach unseren Modellen erwarten wir keine große Welle in Deutschland. Das hat vor allem einen Grund: Aktuell sehen wir noch die Dominanz von BA.2, die um sich greift und derzeit viele infiziert. Diese Art von Durchseuchung verleiht zunächst eine gewisse, wenn auch vorübergehende Immunität. Eine Infektion mit BA.2 bietet zwar keinen hundertprozentigen Schutz vor einer Ansteckung mit BA.5, aber doch schon einen großen.
Das heißt, was wir in Portugal sehen, hat damit zu tun, dass dieser BA.2-Subtyp dort nicht ankam?
Ja, dort gab es keine BA.2-Welle, dafür eine mit BA.1. Diese liegt aber schon länger zurück, sodass der Immunschutz bereits abgenommen hat. Damit entstehen diese hohen Infektionszahlen. In Deutschland wird man zwar auch eine leichte Welle sehen, aber die wird wieder schnell abebben. Außerdem: Einen gewissen Schutz bieten die Impfungen ja auch.
Markus Scholz ist Epidemiologe an der Universität Leipzig und forscht dort zur weiteren Entwicklung der Pandemie.
Obwohl auch bekannt ist, dass der Schutz vor Infektion auch bei den Vakzinen mit zeitlichem Abstand zur Impfung nachlässt.
Ja, daher kann eine Kampagne zur Boosterimpfung der älteren Risikogruppen auch sinnvoll sein. Das wird ja nun auch in Portugal erwogen.
Aber in Deutschland brauchen wir Ihrer Einschätzung nach keine verschärften Maßnahmen, um das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu halten?
Nein, davon gehe ich nicht aus. Eine Überlastung des Gesundheitssystems ist nicht zu erwarten.
In Portugal wird noch etwas anderes befürchtet: dass die vielen gleichzeitigen Infektionen die kritische Infrastruktur gefährden, also etwa Polizisten, Krankenschwestern oder Busfahrer zeitgleich ausfallen.
Ja, das kann passieren. BA.5 ist nochmal ansteckender als BA.1 oder BA.2. Der R-Wert, also der Wert, der angibt, wie viele Menschen ein Infizierter ohne jegliche Maßnahmen ansteckt, ist etwa 13 Prozent höher als bei BA.2.
BA.5 scheint uns in Deutschland also nicht den Sommer verhageln zu können, wie blicken Sie dann aber auf den Herbst?
Da sagen die ersten Modelle nichts Gutes voraus. Ich denke, dann könnten noch einmal neue Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens nötig werden. Wir alle wissen bislang nicht, welche Variante dann dominant sein oder bleiben wird, aber auch mit BA.5 könnte es problematisch werden. Denn bis dahin wird der Immunschutz nach der Durchseuchung mit BA.2 abgenommen haben. Da könnte die Welle deutlich größer werden.
Welche Maßnahmen meinen Sie?
Ich denke, es wäre wichtig, noch einmal eine Kampagne für eine Auffrischungsimpfung kurz vor der Herbstwelle vorzubereiten.
Für alle?
Ich würde mal sagen für Menschen ab 40 Jahre. Eigentlich könnte man sagen: Die Menschen, die sich jährlich gegen Grippe impfen lassen, sollten dies im Herbst auch nochmal gegen Corona tun. Das sind Menschen mit besonders vielen Kontakten zum Beispiel, natürlich Ältere und Vorerkrankte und auch das Pflegepersonal.
Also ist Corona doch mit Grippe vergleichbar?
Es hat den gleichen Übertragungsweg, die gleiche Saisonalität und inzwischen eine vergleichbare Mortalität. Nur: Corona ist eben viel ansteckender.
Der Expertenrat fordert, die Testinfrastruktur wieder reaktivieren zu können ...
Ja, das kann sinnvoll sein. Am Arbeitsplatz, aber vor allem auch in den Schulen kann das wieder sinnvoll werden. An den Schulen haben wir ja gesehen, dass wir bis zu 40 Prozent der Infizierten in den jeweiligen Altersgruppen dort identifizieren konnten.
Was wissen wir eigentlich darüber, welche Maßnahmen der vergangenen Jahre das Infektionsgeschehen tatsächlich effektiv eindämmen konnten?
Da steht an erster Stelle die Maskenpflicht. Außerdem die Absage von Großveranstaltungen, Schulschließungen und das Schließen von Restaurants. Diese vier Maßnahmen waren am effektivsten. Dennoch muss man hier natürlich Abwägungen treffen. Es ist schon möglich, Restaurants oder Schulen durch Teststrategien und Raumluftfilter deutlich sicherer zu machen. Den Einzelhandel oder Friseure etc. zu schließen hatte eigentlich kaum Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen.
Also Masken könnten uns dann doch wieder ereilen?
Ja, davon ist auszugehen. Und auch gewisse Abstandsregelungen im Büro oder am Arbeitsplatz könnten wieder nötig werden.
Der Expertenrat fordert auch, das Kleeblatt-Prinzip beizubehalten bzw. auszubauen. Dabei geht es um die Verlegung Schwerstkranker in benachbarte Bundesländer. Klingt nach einem neuen Horrorszenario.
Ich denke, das ist eher als Vorsichtsmaßnahme zu verstehen, sollte uns eine gefährlichere Variante heimsuchen. Unter BA.5 wird das voraussichtlich nicht nötig sein. Obwohl man sagen muss: Auch an BA.5 sterben Menschen, etwa Ungeimpfte oder auch Menschen, deren Immunisierung durch die Impfungen nicht ausreichend gewirkt hat. Eine Überlastung des Gesundheitssystems ist mit BA.5 voraussichtlich nicht zu erwarten, wenn man sich gut auf die Welle vorbereitet, zum Beispiel durch Auffrischungsimpfungen. Doch welche Variante im Herbst auf uns zukommt, kann man noch nicht sicher sagen.
Herr Scholz, wir danken Ihnen für das Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Markus Scholz
- Wochenbericht des RKI (9. Juni 2022)
- Eigene Recherche