Langzeitstrategie für Corona-Krise Könnten Lockerungen die Infektionszahlen senken?
Mutationen, Impfprobleme und Maßnahmenmüdigkeit: Ein verlängerter Lockdown wird in Deutschland immer wahrscheinlicher. Könnten auch sinnvolle Lockerungen die Inzidenzzahlen nach unten drücken?
Wer sehnt nicht das Ende des Lockdowns herbei? Doch schon jetzt ist klar: So einfach wie im vergangenen Frühjahr wird das nicht. Allein schon wegen der ansteckenderen Virusvarianten, die auch in Deutschland unterwegs sind. Und weil noch zu wenig Menschen geimpft sind. Wie kann unter den neuen Voraussetzungen "clever lockern" funktionieren? Auch viele Wissenschaftler machen sich Gedanken. Eine Auswahl:
Wunsch nach klarer Pandemie-Strategie
Bei einer Mehrheit der Bevölkerung gebe es den Wunsch nach einer längerfristigen, planbaren und klaren Pandemie-Strategie, sagt Cornelia Betsch, Expertin für Gesundheitskommunikation an der Universität Erfurt. Zur psychologischen Lage forscht sie in einer eigenen Studie.
Dabei zeige sich, dass eine Mehrheit der Befragten eine schnellere Öffnung erwarte, wenn gemeinsam niedrige Fallzahlen erreicht würden. Es gebe weniger den Wunsch nach einem festen Datum. Eine Mehrheit der Interviewten gehe auch davon aus, dass Lockerungen noch einige Wochen dauern könnten. Es gibt aber Alarmsignale: Besonders belastet von den Einschränkungen fühlen sich laut Studie junge Menschen. Und mit Pandemie-Müdigkeit hängt weniger Schutzverhalten zusammen.
Geduld ist weiterhin gefragt
50 registrierte Infektionen auf 100.000 Menschen innerhalb einer Woche. Das galt in der Politik lange als Faustformel, um über Lockerungen nachzudenken. Wissenschaftler halten es für sinnvoller, zu warten. Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sprach von "deutlich unter 50".
Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation wirbt wie Kollegen an anderen Forschungsinstituten um Geduld. "Es ist realistisch, in diesem Lockdown auf einen Faktor zehn herunterzukommen", sagt sie. "Es lohnt sich zu warten, um den bisherigen Erfolg nicht zu verspielen. Wenn wir um die zehn sind, wird alles einfacher und wir alle haben Freiheiten wie im vergangenen Sommer." Jetzt schon zu lockern, sei ein extrem hohes Risiko, sagt sie mit Blick auf die Virusvarianten. Wieder steigende Inzidenzen ließen sich auf höherem Niveau ohne weitere Lockdowns schwer wieder einfangen.
Motivation für sinkende Inzidenzzahlen
"Ihr seid super! Ihr habt jetzt noch mal zehn weniger!" Bei sinkenden Inzidenzzahlen hält Covid-Arzt Michael Hallek, Klinikdirektor an der Uni Köln, dickes Lob für angebracht. "Was wir zurzeit haben ist täglich Katastrophenkommunikation. Das macht die Menschen müde", sagt er.
Embed
Hallek, der jeden Tag Corona-Patienten leiden sieht, gehört zur Initiative "No Covid". Diese will die Inzidenzen am liebsten in einem gemeinsamen europäischen Kraftakt gen Null drücken. Mit einheitlichen und festen Regeln, die jeder verstehen kann – immer festgemacht an den lokalen Ansteckungsraten und sofortigen Restriktionen in betroffenen Regionen.
Stufenpläne könnten monatelange Maßnahmen verhindern
Bundesländer wie Niedersachsen haben bereits Ideen vorgelegt, wie sich mit Hilfe der Inzidenzwerte systematisch regional Lockerungen rechtfertigen ließen. Zwischen zehn und 25 ist vieles erlaubt, ab 200 gar nichts mehr. Dazwischen gibt es Erleichterungen je nach Stufe.
Hilfreich findet das Forscherin Priesemann. "Man muss sich nur bewusst sein, dass mit steigenden Fallzahlen auch eine konsequente Eindämmung nötig ist: Ein zügiger und ganz konsequenter Lockdown von zwei bis drei Wochen." Einen kurzen Lockdown könne man gut abpuffern und dann auch früh wieder lockern. "Sonst endet das wie mit der Inkonsequenz im November – samt Jojo-Effekt und völliger Ermüdung durch monatelange Maßnahmen."
Lockerungen vorsichtig einführen
Eine Stufe allein ist noch nicht alles. Für Forscher gilt es, ab gesteckten Grenzwerten Maßnahmen möglichst vorsichtig zurückzufahren. "Am besten nicht alles gleichzeitig", rät Priesemann. Es heiße zu überlegen: Was ist mir am Allerwichtigsten?
"Ein gutes Argument ist zu sagen: Wir hatten jetzt viel Belastung für Schulen, Kitas, den Einzelhandel und Restaurants. Aber wir hatten recht wenig Verpflichtungen, was Arbeitgeber und Homeoffice anging. Vielleicht kann man das auch mal tauschen." Den Bereich Arbeitsplatz sehe sie in Stufenplänen kaum. Die Politik hat schon ein Ziel bei der Öffnung vor Augen: Schulen und Kitas zuerst, sagt Spahn.
Mit Wettbewerben spielerisch den Elan wecken
Wer wird zur grünen Zone? Für die Initiative "No Covid" lässt sich die Pandemie-Eindämmung bei allem Ernst der Lage auch spielerisch angehen. Wer schafft es zum Beispiel von den ewigen Konkurrenten Köln und Düsseldorf eher, die Infektionszahlen so erfolgreich in Schach zu halten wie Rostock? Als Belohnung winkten dann regional immer mehr Freiheiten für alle. Voraussetzung aber auch hier: Der Lockdown bleibt noch ein paar Wochen.
Später dürften Besucher aus roten Zonen mit hoher Inzidenz dann nur aus gutem Grund auf die nahezu covid-freien grünen Inseln, so die Ideen der Initiative. Länder wie Australien und Finnland hätten dieses Prinzip erfolgreich durchgezogen, berichtet Hallek. Mit Überzeugung statt mit Zwang. Die deutsche Politik ist bei solchen Ideen bisher noch zurückhaltend. Aber auch für sie gilt das Motto: So weit runter mit den Inzidenzen wie möglich.
Noch schlauer lockern
Bei Lockerungen lässt sich für Forscher am besten noch in den einzelnen Bereichen differenzieren: Außengastronomie sei mit Blick auf Ansteckungen zum Beispiel weniger gefährlich als das Sitzen im Restaurant. Lokale aber haben für sie generell ein Problem: Wer dort hingeht, wählt – anders als bei zufälligen Begegnungen im Supermarkt – meist sozial aus mit wem.
Doch in festen Gruppen wie Familie oder Freundeskreis sind unerkannte Infektionen untereinander durch mehr Nähe wahrscheinlicher. Sitzt eine solche Gruppe an einem Tisch im Restaurant, kann sie unwissentlich zu einer Art Superspreader werden, hat Physiker Eberhard Bodenschatz vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation ausgerechnet. "Deshalb geht in Restaurants nur eine geringe Personenzahl", sagt er. Ähnlich in Schulen: Wechselunterricht in kleinen Gruppen senke das Ansteckungsrisiko.
Teststrategien ausweiten
Um ein besseres Gefühl für Ansteckungsrisiken zu bekommen, sprechen sich manche Wissenschaftler für leichter zugängliche Corona-Tests aus. Er sei für ganz niedrigschwelliges Testen, sagt Florian Klein, Direktor des Instituts für Virologie der Uniklinik Köln. Denn man müsse der Tatsache Rechnung tragen, dass die Symptome bei einer beginnenden Corona-Infektion sehr unspezifisch seien. Es sei auch möglich, Proben mehrerer Menschen auf einmal mit der sehr empfindlichen PCR zu testen ("Pool-Testen"). Bei negativem Ergebnis sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass alle Patienten negativ sind. Ist es positiv, könne nachgetestet werden.
Es müsste eigentlich viel regelmäßiger – idealerweise repräsentativ – in der Bevölkerung getestet werden, auch in Hinblick auf Verläufe ohne Symptome und zum Erkennen von Mutationen, ergänzt Tobias Kurth, Direktor des Public-Health-Instituts der Charité. Dann könne man frühzeitig reagieren. Schnelltests, die nicht länger als 24 Stunden alt sind, seien überall ratsam, wo sich Gruppen treffen, findet darüber hinaus Forscherin Priesemann. Sie erlaubten aber nicht automatisch hohe Fallzahlen. "Der größte Nutzen von Schnelltests liegt bei niedriger Inzidenz. Dann sind Lücken in den Sicherheitskonzepten, die man immer hat, weniger schlimm."
Mit Technik das Ansteckungsrisiko minimieren
Für Geschäfte könnten Apps das Ansteckungsrisiko schon recht gut kalkulieren, sagt Forscher Bodenschatz. Welche Raumhöhe, welche Volumina, welcher Luftaustausch? Dann berechne eine App, wie viele Menschen gleichzeitig hineindürften. Schulen und Kitas könne im Sommer durch Ventilatoren in den Fenstern geholfen werden, die nicht teuer sein müssten. Denn das regelmäßige Aufreißen der Fenster allein reiche nicht, wenn die Außen- über den Raumtemperaturen lägen.
Manfred Schmidt, Politikwissenschaftler an der Uni Heidelberg, sieht Staaten wie Japan oder Südkorea mit ihrer digitalen Nachverfolgung von Kontakten als erfolgreichere Covid-19-Bekämpfer als Europa. Das liege aber unter anderem auch an einem anderen Verständnis von Datenschutz.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Nachrichtenagentur dpa-AFX