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Nahrungsmittel-Allergie: Anne könnte an Milch sterben


Extreme Nahrungsmittelallergie
Für Anne können Eis, Schokolade oder Erdnussflips zur tödlichen Gefahr werden

t-online, Anja Speitel

Aktualisiert am 15.06.2016Lesedauer: 6 Min.
Nahrungsmittelallergiker müssen penibel auf ihre Ernährung achten. (Symbolfoto)Vergrößern des Bildes
Nahrungsmittelallergiker müssen penibel auf ihre Ernährung achten. (Symbolfoto) (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)

Milch, Eier, Nüsse und Soja - all das darf Anne* nicht essen. Denn die 15-Jährige könnte daran sterben. Sie hat seit dem Babyalter eine extreme Nahrungsmittelallergie. Damit gehört sie zu den vier bis acht Prozent aller Kinder in Deutschland, deren Immunsystem mit schweren Abwehrreaktion auf bestimmte Nahrungsmittel reagiert.

Schon einige Wochen nach ihrer Geburt zeigte Anne typische Symptome einer Allergie: "Erst bekam sie starke Pickelchen, aber der Arzt tat diese mit der Diagnose Neugeborenenakne ab", erinnert sich Annes Mutter Eva*. "Doch Annes Hautzustand wurde immer schlimmer. Sie entwickelte eine so ausgeprägte Neurodermitis, dass keine Stelle ihrer Haut mehr gesund war."

Schon mit sechs Monaten im Krankenhaus

Damit die Haut abheilen konnte, musste das Mädchen mit sechs Monaten für eine Woche in einer Klinik mit Kortison und Antibiotika behandelt werden. "Über einen Bluttest stellten die Ärzte sehr hohe IgE-Antikörper fest und nach einem Provokationstest war klar, dass Anne extrem allergisch auf Milch, Eier und Soja reagierte."

Nahrungsmittelallergien: typische Symptome

Viele Kinder reagieren, wie Anne, schon auf Muttermilch. Allergische Reaktionen zeigen sich oft an Haut und Schleimhäuten, etwa durch Quaddeln, Rötung, Juckreiz oder einer Neurodermitis. Aber auch Reaktionen im Hals-Nasen-Ohrenbereich oder an den Bronchien, wie Niesattacken, Fließschnupfen, Husten, Atemnot und Verschleimung sowie Blähungen, Durchfall, Erbrechen, Übelkeit oder Verstopfung sind typische Warnzeichen.

Die schwerste allergische Reaktion auf Lebensmittel ist der anaphylaktische Schock, der sich in Form eines lebensbedrohlichen Kreislaufzusammenbruchs äußert.

Das sind Hauptauslöser von allergischen Reaktionen

"Nahrungsmittelallergien sind die häufigsten Allergien im Kindesalter", weiß Sabine Schnadt, Diplom Oecotrophologin beim Deutschen Allergie- und Asthmabund (DAAB). "Vier bis acht Prozent aller Kinder hierzulande reagieren schon sehr früh auf bestimmte Nahrungsmittel", erklärt die Allergie-Expertin. "Die Hauptauslöser allergischer Reaktionen bei Säuglingen und Kleinkindern sind Kuhmilch, Soja, Eier, Weizen, Erdnüsse und Haselnüsse."

Aus welchem Grund bestimmte Nahrungsmittel bei einigen Menschen Allergien auslösen, ist bislang nicht eindeutig erwiesen. Eine große Rolle spielte die genetische Belastung, wenn also Mutter, Vater und/oder Geschwister Allergiker sind.

Als Risiko-Kinder mit einer Allergiewahrscheinlichkeit von 20 bis 40 Prozent gelten jene, bei denen ein Verwandter ersten Grades eine Allergie hat. Wenn beide Eltern betroffen sind, liege die Bereitschaft, eine Allergie zu entwickeln bei 60 bis 80 Prozent. Dann sprechen Experten von "Hochrisiko-Kindern".

Annes Geschwister sind nicht betroffen

Warum Anne erst Allergien gegen Milch, Eier, Soja und dann auch gegen Nüsse sowie Birkenpollen und besonders Hausstaub entwickelt hat, ist unklar. "Mein Mann ist gegen Haselnuss allergisch, seine Mutter hat Heuschnupfen", sagt Eva. "Aber sonst ist in unserer Familie niemand von Allergien betroffen. Auch unsere beiden anderen Kinder sind gesund."

Paradigmen-Wechsel in der Allergie-Vorbeugung

Eva stillte Anne ein Jahr lang. Dabei hielt sie keine strenge Diät, sondern verzehrte auch weiterhin Milch, Ei und Soja, obwohl klar war, dass Anne darauf allergisch reagierte. Damit hielt sich Eva an die Empfehlungen, die heute zur Vorbeugung für Allergie-Risiko-Kinder gelten.

"Mittlerweile empfiehlt man deren Müttern vier Monate ausschließlich zu stillen, sich dabei abwechslungsreich zu ernähren und auch bei Einführung der Breikost nichts Spezielles zu beachten“, weiß Schnadt. "Früher hieß es hingegen: Möglichst ein halbes Jahr ausschließlich stillen und dabei die Hauptauslöser nicht essen oder geben."

Neueste Studien bescheinigen, dass es falsch ist, die Haupt-Allergene von Anfang an zu meiden. Durch eine normale Ernährung scheint das Immunsystem eine Toleranz entwickeln zu können, sodass sich die Allergie weniger stark oder gar nicht ausprägt.

Die Diagnose sichert nur ein Provokationstest

Zeigen sich Auffälligkeiten, sollten sich Eltern mit ihrem Kind schnell an einen erfahrenen Allergologen wenden. "Der Arzt wird nach der Anamnese gezielte Haut- und Bluttestungen vornehmen", erklärt Schnadt.

"Da diese Tests immer nur einen Hinweis auf einen möglichen Auslöser geben, sollte sich ein Provokationstest anschließen." Dabei wird das verdächtige Lebensmittel gegeben und beobachtet, ob eine allergische Reaktion auftritt.

Dem Immunsystem eine Chance geben

Erst danach könne mit Sicherheit eine Allergie auf ein bestimmtes Nahrungsmittel bestätigt oder ausgeschlossen werden. Nur wegen hoher IgE-Antikörper im Blut bestimmte Lebensmittel strickt zu meiden, sei falsch. So könne man sich eine Nahrungsmittelallergie selber züchten, weil man dem Immunsystem die Chance nehme, Toleranzen zu entwickeln, warnt die Oecotrophologin.

"Wenn man dann versehentlich in Kontakt mit dem Allergen kommt, knallt es richtig." Da Nahrungsmittelallergien - vor allem bei Kindern - im Laufe der Zeit auch wieder verschwinden können, sollte die Diagnose nach jeweils ein bis zwei Jahren überprüft werden.

Annes Allergien wirken sich auf den Alltag aus

Bei Annes drittem Provokationstest mit vier Jahren stellte sich heraus, dass sie auch extrem allergisch auf Nüsse und Hausstaub reagierte. "Anne sollte in den Kindergarten gehen, aber dort bekam sie immer Asthma-Anfälle", erinnert sich Eva.

"Sie reagierte so extrem auf Hausstaub, dass es mir daheim nicht mehr möglich war, in ihrer Gegenwart zu saugen. Wir haben alle Teppiche rausgerissen und Holzböden verlegt. Aber dennoch mussten wir eine Hilfe einstellen, damit ich mit Anne weggehen konnte, wenn geputzt wird. Denn das heißt bei uns: Jedes einzelne Teil in unserer ganzen Wohnung einmal pro Woche nass abstauben", erzählt die Mutter.

Annes Mutter putzte das Klassenzimmer

Als Anne mit sechs in die Grundschule kam, putzte die Mutter regelmäßig das Klassenzimmer und saß für eineinhalb Jahre mit im Unterricht, da es den Lehrern anfangs zu gefährlich war, die Verantwortung für Annes Notfallbehandlung zu übernehmen - bestehend aus einer Spritze und anderen Medikamenten, die einen anaphylaktischen Schock abwenden. Einige Lehrer ließen sich schließlich durch die Kinderärztin schulen.

"Noch bis zur dritten Klasse war ich in den Pausen anwesend. Denn es braucht nur jemand eine Tüte Erdnussflips neben Anne aufzureißen und die Folgen sind nicht einschätzbar. Darum war sie auch noch nie im Kino oder konnte bei einer Freundin übernachten."

Der anaphylaktische Schock ist die gefürchtetste und schwerwiegendste allergische Reaktionen des menschlichen Körpers: Schlimmstenfalls tödliche Versagen des Kreislaufs oder ein Verschluss der Atemwege durch Schwellung des Kehlkopfes. Anne trägt ihr medizinisches Notfallset daher stets bei sich.

Anne hat einen eigenen Backofen

Auch mit Annes Ernährung hat die Mutter viel zu tun: "Wenn wir mal in ein Restaurant gehen oder Anne auf einen Geburtstag, nimmt sie ihr Essen mit. Denn selbst, als ein netter Koch ihr mal Kartoffeln in reinem Olivenöl angebraten hat, reagierte Anne bereits mit Hautausschlag und Luftnot. Da muss nur etwas rüberspritzen aus einer anderen Pfanne. Bei uns daheim hat Anne deshalb ihre eigenen Töpfe und einen kleinen Backofen", erzählt Eva.

Nie von anderen essen

Mit dem Verzicht von Milch, Eiern, Nüssen und Soja kommt Anne sehr gut klar. Schon mit vier Jahren hat sie gewusst, dass es ihr sonst sehr schlecht geht. Die Eltern haben ihr das immer wieder gesagt. Zudem erinnert Anne sich an die Provokationstests. Sie isst konsequent nichts von anderen - und ein neues Nahrungsmittel wird mit langsamer Dosis-Steigerung an den Wochenenden zu Hause getestet.

Bevor Anne jedoch etwas kostet, was sie noch nie gegessen hat, ruft Eva immer die Qualitätssicherung des Herstellers an - denn auf die Spurenkennzeichnung können sich Nahrungsmittelallergiker leider nicht verlassen.

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Die Spurenkennzeichnung ist nicht gesetzlich geregelt

"Die Spurenkennzeichnung auf Produkten ist freiwillig und nicht gesetzlich vorgegeben", erklärt DAAB-Oecotrophologin Schnadt das Dilemma. "Hinweise wie 'Kann Spuren von Erdnüssen enthalten' beziehen sich auf möglichen Verunreinigungen, sind jedoch nicht an Schwellenwerte gebunden. Daher bleibt einerseits unklar, ob ein Produkt tatsächlich Spuren der angegebenen Allergene enthält, und andererseits kann ein Produkt Allergenspuren enthalten, ohne dass darauf hingewiesen wird."

Diese Gesetzeslage ist für Betroffene ganz schön verzwickt. Deshalb bietet der DAAB z.B. einen kostenloser Newsletter für Nahrungsmittelallergiker mit Hinweisen auf versehentlich nicht deklarierte Allergieauslöser ("Allergy Alerts") oder die Plattform "AllerREACT", auf der allergischen Reaktionen auf Lebensmittel gemeldet werden können.

Trotz ihrer vielen Allergien lebt Anne heute gut

Anne besucht heute ein Gymnasium in der Nähe von Köln, auf das auch ihre ältere Schwester Sonja* geht. Das gibt Anne Sicherheit, denn Sonja weiß, was im Notfall für sie zu tun ist.

"Wir dürfen unsere Handys im Unterricht anlassen, weil ich allergisch reagieren könnte", erzählt Anne. "Auch einige Lehrer sind geschult - und mittlerweile kann ich mir die Spritze aus meinem Notfallset auch selber setzen. Gott sei Dank kam es aber noch nie so weit", sagt der Teenager.

Seit Anne und ihre Familie wissen, was sie alles einhalten müssen, geht es Anne gut. "Ich finde meine Allergien grundsätzlich nicht schlimm. Ich kann immer noch vieles essen, andere Kinder hingegen leiden Hunger oder müssen im Rollstuhl sitzen", so die Schülerin. "Schade finde ich nur, dass ich wegen meiner Hausstauballergie beruflich sehr eingeschränkt bin. Ich hätte gerne mit Tieren gearbeitet oder im Kindergarten."

*Namen von der Redaktion geändert

Weitere Infos:

Der Deutsche Allergie- und Asthmabund (DAAB) bietet Betroffenen hilfreiche Infos und Unterstützung im Alltag, darunter etwa einen Anaphylaxie-Notfallplan, eine Ermächtigungsbescheinigung zur Gabe der Medikamente durch Lehrer oder Erzieher, eine Bescheinigung zur Mitnahme von Medikamenten bei Flugreisen im Handgepäck sowie Restaurantkarten zu allen 14 deklarationspflichtigen Allergieauslösern. Homepage: www.daab.de

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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