Kindergesundheit Ein Leben mit Synästhesie: Wenn Worte riechen und Musik bunt ist
Wenn bei einem Kind das Gute-Nacht-Lied orange ist, das Wort CD nach Apfel schmeckt oder Musik Formen vor dem inneren Auge hervorruft, dann handelt es sich um einen ganz besonderen Menschen. Einen, der sich ein Phänomen bewahren konnte, das wir anderen wohl bereits in unserem vierten Lebensmonat verloren haben: Synästhesie. Wie häufig das vorkommt, ist noch umstritten. Aber es gibt Wissenschaftler, die davon ausgehen, dass in jeder Schulklasse ein solch besonderes Kind sitzt. Manchmal ohne es zu wissen.
Synästhesie ist keine Krankheit
"Mir war jahrelang gar nicht bewusst, dass, was ich wahrnehme, nicht das Gleiche ist, was andere wahrnehmen", erinnert sich die 18-jährige Anna. "Erst als unsere damalige Lehrerin in der Schule ein Farblernsystem einsetzte, kam heraus, dass ich anders bin." Anders ja, aber nicht krank. Denn Synästhesie ist keine Krankheit, keine Halluzination und schon gar keine Einbildung. Das klarzustellen, ist Anna wichtig. Stattdessen ist es das Resultat einer besonderen Vernetzung im Gehirn, die häufiger bei Frauen stattfindet und vererbbar zu sein scheint. Wobei es durchaus sein kann, dass eine Mutter Wörter schmeckt und ihre Tochter Zahlen farblich wahrnimmt.
Die meisten Synästhetiker nehmen Musik in Farben wahr
Alexandra Dittmar verweist in ihrem Buch "Synästhesie. Roter Faden durchs Leben?" darauf, dass es sogar Beispiele eineiniger Zwillinge gibt, bei denen die Erscheinung unterschiedlich ausgeprägt ist. Die Angaben wie häufig Synästhesie vorkommt, schwanken stark. Der Arbeitskreis der Medizinischen Hochschule in Hannover geht aber von immerhin 80.000 bis 160.000 Menschen in Deutschland aus. Bezieht man von den 65 Formen, die bereits bekannt sind, auch die subtileren, kaum auffälligen mit ein, kann man davon ausgehen, dass es deutlich mehr Menschen mit dieser besonderen Gabe gibt. Das Farbenhören ist wohl die häufigste Synästhesieform.
Zu viele Reize können stressig sein
Studien zeigen, dass Synästhesie oft gekoppelt ist an Hochbegabung, an besonders stabile Persönlichkeiten mit einer überraschenden Angstfreiheit, aber es gibt auch eine andere Seite: Aufmerksamkeitsstörungen, extreme Geräuschempfindlichkeit und das Leiden unter der Reizüberflutung der heutigen Zeit. Doch für die meisten Synästhetiker ist die Gabe eine Ergänzung ihrer Fähigkeiten. "Stellen Sie sich vor, Sie gehen durch eine Einkaufsstraße in einer fremden Stadt und schauen sich die Läden an. Am Ende der Straße fragt Sie jemand, wie es vor dem vierten Laden links gerochen hat. Was antworten Sie?" Diese Frage stellt Christine Söffing vom Synästhesieforum in den Raum. Und beantwortet sie folgendermaßen: "Sie haben den ganzen Weg so dies und das gerochen, wenn Sie aber gerade keinen Hunger hatten, werden diese Gerüche Sie nicht weiter interessiert haben, es sei denn, einer war störend. Genauso ist das mit der Synästhesie - sie ist dauernd da und stört nicht, sondern kann sogar, wenn man darauf achtet, eine Merkhilfe sein."
Sind alle Babys Synästhetiker?
Auch wenn das Phänomen Wissenschaftler bereits in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts zu interessieren begann, ließen erst neue Methoden der Gehirnuntersuchung die entsprechende Forschung weltweit aufblühen. Doch noch immer weiß man nicht, was der Auslöser ist. Obgleich man derzeit ein mutiertes Gen für Schmerzempfinden als Grund vermutet, so zeichnet sich immer mehr ab, dass es verschiedene Ursachen für die vielen verschiedenen Formen gibt. Einer wissenschaftlichen Theorie zufolge könnte es sogar sein, dass alle Menschen bei der Geburt Synästhetiker sind, denn in den ersten drei, vier Monaten unseres Lebens sind die sensorischen Orte im Gehirn noch nicht eindeutig voneinander getrennt und reagieren gemeinsam.
Glückliche Fügung der Natur
Warum diese Fähigkeit einigen Menschen erhalten bleibt und anderen nicht, das allerdings ist bis heute ein Rätsel. Was die Forscher ebenfalls noch nicht beantworten können, ist die Frage, ob Synästhetiker ihre zusätzlichen Fähigkeiten einem bestimmten neuronalen Netzwerk verdanken oder dieses sich erst aufgrund der Fähigkeiten bildet. Um das herauszufinden, müsste man von klein auf über Jahre hinweg systematisch Untersuchungen durchführen.
Anna ist es egal, welche Fügungen der Natur dazu geführt haben, dass ausgerechnet sie eine Synästhetikerin ist. Sie empfindet ihre Gabe an manchen Tagen sogar als kleines Wunder. Zum Beispiel dann, wenn sie, was sie leidenschaftlich gern macht, Geige spielt. "Dann habe ich das Gefühl, ich könnte die Musik mit meinen Ohren hören und mit meiner Seele sehen."
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.