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Wie Geschwister behinderter Kinder leben


Leben mit einem behinderten Bruder
"Am liebsten wäre ich auch behindert"

t-online, Nicola Wilbrand-Donzelli

Aktualisiert am 22.01.2014Lesedauer: 5 Min.
Oft fühlen sich Kinder mit behinderten Geschwistern benachteiligt.Vergrößern des Bildes
Oft fühlen sich Kinder mit behinderten Geschwistern benachteiligt. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)

Die Beziehung zwischen Geschwistern ist wahrscheinlich die dauerhafteste zwischenmenschliche Bindung, die es im Leben gibt. Wie aber verändert sich das Geschwisterverhältnis und der Alltag, wenn der Bruder oder die Schwester behindert beziehungsweise chronisch krank ist? Auf jeden Fall fordert die besondere Familiensituation einiges von den gesunden Geschwistern ab. Sie müssen häufig größere Belastungen mittragen, die jedoch auch zu einer Chance werden können, wenn die Eltern die Probleme ihres gesunden Kindes erkennen und verstehen - so können die Eltern betroffene Geschwister unterstützen.

Wenn die 22-jährige Linda sich heute an ihre Kindheit erinnert und an das Zusammenleben mit ihrem um zwei Jahre jüngeren geistig behinderten Bruder Florian denkt, dann überwiegen vor allem die schönen Momente und positiven Gefühle. "Trotzdem", so erzählt sie, "war es nicht immer leicht. Für mich blieb oft zu wenig Zeit. Ich weiß noch, dass ich mir in schwierigen Situationen als Kind oft wünschte auch behindert zu sein, um genauso viel Aufmerksamkeit von meinen Eltern zu bekommen wie mein Bruder. Gleichzeitig schämte ich mich dann für meine Gedanken." Solche Äußerungen sind typisch für Geschwister Behinderter oder chronisch Kranker. Immerhin wachsen zwei bis drei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland mit einem gehandicapten Geschwisterkind auf.

Dauernde Rücksichtnahme wird erwartet

Die renommierte Münchner Journalistin und Autorin Ilse Achilles, selbst Mutter eines behinderten Sohnes und zweier gesunder Töchter, beschreibt in ihrem Buch "…und um mich kümmert sich keiner" mit welchen Schwierigkeiten sich Geschwister behinderter Kinder auseinandersetzen müssen. In einem Interview mit der Eltern-Redaktion von t-online.de erklärt sie, warum der Alltag für die gesunden Geschwister oft kompliziert ist: "Den Kindern wird dauernd Rücksichtnahme abverlangt und sie müssen mit ihren Bedürfnissen zurückstehen. Es geht nichts ohne genaue Planung, weil der Tagesablauf mit einem behinderten Kind etwa durch Therapien, Arztbesuche oder Mahlzeiten völlig durchstrukturiert sein muss. Spontanität und Leichtigkeit bleiben da auf der Stecke."

So ist es nicht verwunderlich, dass die gesunden Geschwister oft Schwierigkeiten haben Freundschaften zu schließen. Manchmal schämen sie sich auch, jemanden mit nach Hause zu bringen. Oft hat ihre Zurückhaltung aber auch damit zu tun, dass sie ihre Geschwister schützen wollen, um mögliche Häme oder Spott von ihnen fernzuhalten. "Ein beeindruckendes Mädchen habe mich mal kennengelernt", erzählt Achilles "das hat immer ein Foto seines behinderten Bruders dabei gehabt und es überall vorgezeigt. Wer erschrocken reagierte, war unten durch, wurde nicht nach Hause eingeladen."

Gesunde Geschwisterrivalität kann nicht entstehen

Behüten, beschützen und Rücksicht nehmen ist bei den gesunden Kindern allgegenwärtig. Für sie ist es gar nicht möglich eine normale Geschwisterrivalität aufzubauen, wo es eigentlich ganz normal ist, um die Gunst der Eltern zu buhlen. So erlebt es auch der 14-jährige Ben, der einen älteren Bruder mit Down-Syndrom hat: "Ich kann machen, was ich will", bemerkt er, "aber immer zählt nur das, was mein Bruder macht. Und wenn ich dann mal auf ihn sauer bin, heißt es gleich: 'Lass ihn doch! Er kann sich doch nicht so gut wehren.'"

Und danach richten sich die gesunden Kinder dann in den meisten Fällen. Sie passen sich an, üben sich in Zurückhaltung, haben verinnerlicht, dass die Mutter und der Vater um jeden Preis immer die schützende Hand über ihr Sorgenkind halten. Diese Reaktionen seien typisch kommentiert Achilles: "Die gesunden Geschwister wollen gefallen, sie wollen liebe Kinder sein und vermeiden Ärger, auch um ihre Eltern nicht noch zusätzlich zu belasten. Diese Kinder leisten Unglaubliches!"

Hierarchien werden auf den Kopf gestellt

Ein weiteres Problem für die gesunden Geschwister ist, dass sie nur schlecht damit umgehen können, wenn Hierarchien in der Familie auf den Kopf gestellt werden und sie irgendwann den kranken Bruder beziehungsweise die kranke Schwester in ihrer Entwicklung überholen und überflügeln. "Es irritiert die Kinder sehr", kommentiert die Münchner Autorin, "dass sie irgendwann mehr können als ihr älteres Geschwisterteil. Etwas zu können, ist damit oft mit einem Schatten versehen." Ähnliches hat Ilse Achilles auch bei ihrer Tochter erlebt. "Sie hat sich die geistige Behinderung unseres Jüngsten so erklärt, dass das Intelligenz-Budget in unserer Familie ungleich verteilt worden war. Während sie und ihre Schwester sehr viel davon abbekamen, ging deshalb nach ihrer Theorie ihr Bruder leer aus. So hat sich meine Tochter zum Beispiel lange nicht über gute Noten freuen können."

Größtes Problem: Zeitmangel und Zuspruch der Eltern

Am meisten leiden die Kinder aber darunter, dass ihre Eltern viel zu wenig Zeit und deshalb oft auch kein offenes Ohr für ihre Sorgen und Nöte haben. Denn fast immer stehen die Bedürfnisse des "Sorgenkindes" im Vordergrund. Auch Ilse Achilles' jüngere Tochter hat sich in ihrer Kindheit als mittleres "Sandwichkind" oft nach mehr Zuwendung gesehnt: "Sie machte auf sich aufmerksam, indem sie aufmüpfig wurde", erinnert sich die Autorin. "Obwohl sie viel erlaubt bekam, fühlte sie sich dennoch ungeliebt. Symbolisch dafür stand wohl der Schuhkarton voller gehorteter Schokolade, den ich eines Tages unter ihrem Bett entdeckte."

Damit sich die gesunden Geschwister nicht vernachlässigt fühlen und ihre Entwicklung positiv verläuft, sollten sich deshalb Väter und Mütter auf jeden Fall bewusst Zeit für gemeinsame Gespräche nehmen. Das schafft Loyalität und Verständnis. Ein zentrales Thema sei, so rät Achilles, über die Behinderung des kranken Kindes zu reden: "Gerade Heranwachsende verunsichert an dieser Stelle elterliches Schweigen. Sie quälen sich oft mit Fragen, ob sie eventuell auch krank werden oder aber später selbst behinderte Kinder bekommen könnten. Solche Ängste können Eltern mit Offenheit und Transparenz aus dem Weg räumen."

Positive Grundeinstellung vorleben

Außerdem sollten Väter und Mütter gegenüber ihren gesunden Kindern versuchen, eine positive Haltung zu den Herausforderungen mit ihrem besonderen Kind einzunehmen und nicht mit dem Schicksal zu hadern. Ansonsten überträgt sich das Ohnmachtsgefühl auf alle. "Wenn Eltern aber vermitteln 'wir packen das' und 'wir halten als Familie zusammen', dann kann das eine echte Energiequelle sein. Das macht nämlich Mut und die zuversichtliche Lebenseinstellung und das Gefühl des Zusammenhalts übertragen sich auch auf die gesunden Kinder", so das Fazit von Ilse Achilles.

Was Eltern noch beachten sollten, um den Bedürfnissen ihrer gesunden Kinder ebenfalls gerecht zu werden, können Sie hier lesen.

Es sind keine "Schattenkinder"

Fühlen sich gesunde Geschwisterkinder dauerhaft übersehen und ungeliebt, dann besteht das Risiko, dass sie später verschlossen werden, sich zurückziehen, in der Partnerschaft Probleme bekommen oder bei Konflikten sehr empfindlich und kritikunfähig reagieren. Doch Wissenschaftler haben mittlerweile in vielen Studien gezeigt, dass das Aufwachsen mit einem behinderten oder chronisch kranken Geschwisterteil ein Kind zwar beeinträchtigten kann, dies aber nicht so sein muss.

Das Übernehmen von Verantwortung, häufige Rücksichtnahme oder die täglich erforderliche Mithilfe können aus den nicht behinderten Geschwistern, sozial kompetente, empathische, lebenstüchtige und sensible Menschen machen, die selbstbewusst und nicht oberflächlich durchs Leben gehen. Aus diesem Grund lehnt Achilles auch die weit verbreitete Bezeichnung "Schattenkinder" ab: "Das ist viel zu negativ und stellt diese gesunden Geschwisterkinder tatsächlich in einen Schatten. Doch ihr Leben wird nicht überschattet, es bietet viele positive Perspektiven."

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  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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