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Wie dem deutschen Staat das Glücksspiel entgleitet


Auf dem Weg zur "Hölle"?
Wie dem deutschen Staat das Glücksspiel entgleitet

dpa, Andreas Hoenig, Georg Ismar

31.05.2018Lesedauer: 4 Min.
Spielautomaten im CasinoVergrößern des Bildes
Rund 13,5 Milliarden Euro Ertrag macht die Glücksspielbranche in Deutschland pro Jahr. Ein gewaltiger Markt – mit gefährlichem Sucht- und Verschuldungspotenzial für die Zocker. (Quelle: mbbirdy/getty-images-bilder)
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Die Glücksspielbranche ist nervös – schon 20 Prozent des Marktes ist in den unregulierten Bereich abgewandert. Zocken im Internet und Café-Casinos nehmen rasant zu. Dem Staat entgeht viel Steuergeld. Nun wächst der Druck, den Grau- und Schwarzbereich auszutrocknen.

So eine Kaffeehausdichte gibt es nicht einmal in Wien. Am stärksten ist es am Britzer Damm in Berlin. "Open 24 Stunden", wirbt ein rot blinkendes Schild am Eingang. Ungewöhnlich für ein Café. Drinnen findet sich in Zimmer 1 das "Café Orient". Vor Zimmer 2 weist ein Schild auf die "Britzer Milchbar" hin. In Zimmer 3 ist das "Wiener Café" – und so weiter. Sechs Cafés auf engstem Raum.

Dabei sind alle Räume gleich, nur getrennt durch Glaswände. Immer bestückt mit einer Kaffeemaschine – und drei Glücksspielautomaten.

Kaffee in diesen "Cafés" gibt es nicht immer

Wer sich im Berliner Bezirk Neukölln auf die Spur einer Grau- bis Schwarzzone des Glücksspiels begibt, muss nicht zwangsläufig einen Kaffeeschock bekommen. Denn drinnen bekommt man nicht überall Kaffee zu trinken. Ob das der Hauptgeschäftssinn ist, darf bezweifelt werden.

Wird das Geld primär mit dem Verkauf von Kaffee verdient, dürfen in einem Café drei Glücksspielautomaten aufgestellt werden – so hat hier jeder Raum eine Kaffeemaschine und drei Automaten, aber eigentlich ist das hier eine "Glücksspielhölle".

Ein gewaltiger Markt – mit Sucht- und Verschuldungspotenzial

Rund 13,5 Milliarden Euro Ertrag macht die Glücksspielbranche in Deutschland pro Jahr derzeit, die ausgezahlten Gewinne sind davon bereits abgezogen. Ein gewaltiger Markt – mit gefährlichem Sucht- und Verschuldungspotenzial für die Zocker. Nach dem Jahresreport 2016 der Spielaufsichtsbehörden der Länder gelten 81 Prozent des Marktes als reguliert, 19 Prozent nicht. Und dieser Bereich wächst. Um 15 Prozent im Jahr, schätzt ein Branchenvertreter. Zum Beispiel Fußballwetten werden vor allem im Internet getätigt – aber viele Anbieter kommen nur zum Zuge, weil es an EU-weiten Regeln fehlt. Und im Automatensektor blühen sogenannte Café-Casinos wie in Neukölln.

Neben 470 regulären Spielhallen wird deren Zahl für Berlin der Branche zufolge auf 2.500 geschätzt. Zahlen sie korrekt Steuern? Sind das nicht verkappte, unkontrollierte "Spielhöllen"? Die legalen Spielhallen brauchen geschultes Personal, haben strenge Auflagen und zertifizierte Spielautomaten. Das kostet Geld und schmälert Gewinne. Erklärtes Ziel der Politik war es, das Glücksspiel einzudämmen – die "klassische" Branche fühlt sich gegängelt und macht mächtig Druck, dass der Staat gegen die Konkurrenz vorgeht.

"Mit großer Sorge sehen wir, dass die Illegalität enorm zunimmt"

Der Vorwurf: Es gibt ein Vollzugsproblem beim Vorgehen gegen illegale Einrichtungen und Glücksspiel im Netz. In einer Stadt wie Berlin mit Terrorgefahren und anderen Großbelastungen für Polizei und Ordnungsbehörden fehlt Personal, um mal die Szene genauer zu durchleuchten. Der Sprecher des Verbandes der Automatenwirtschaft, Georg Stecker, sagt: "Mit großer Sorge sehen wir, dass die Illegalität am Markt enorm zunimmt." Die Kommunen seien aufgrund von Steuerausfällen "die Verlierer dieser Marktentwicklung".

Noch deutlicher wird Daniel Henzgen vom Automatenhersteller Löwen: "Wer sich an Recht und Gesetz in Deutschland hält, ist der Dumme." Wenn der Staat nicht durchgreife, dann öffne der deutsche Gesetzgeber "das Tor zu Hölle". Der illegale Marktanteil werde weiter massiv wachsen. Der Staat beweise beim Glücksspiel, dass er die Dynamik der Digitalisierung nicht begreife, sagt er. "So erschließt es sich mir nicht, warum staatlich-konzessionierte Spielhallen Mindestabstände einhalten sollen, wo auf jedem Handy circa 1.200 deutschsprachige Online-Casino-Seiten jederzeit verfügbar sind."

Löwen-Lobbyist: Man verzichte "auf Milliarden von Steuereinnahmen"

Mit Mindestabständen von Spielhalle zu Spielhalle will man deren Zahl verringern – aber neben dem unregulierten Internetgeschäft reiht sich etwa in Berlin-Neukölln Café-Casino an Café-Casino. Man gefährde Tausende Arbeitsplätze, schaffe den Spieler- und Jugendschutz ab und verzichte "auf Milliarden von Steuereinnahmen", wettert der Löwen-Lobbyist Henzgen.

Die privaten Unternehmen der Branche fürchten massiv um ihr Geschäft. Und hängen der Theorie an, dass gerade die starke Regulierung im legalen Bereich, etwa beim Betrieb von Spielhallen, zu einer Ausbreitung von unerlaubten Glücksspielen in Schwarzmärkten führt.

Hessens Finanzminister Thomas Schäfer (CDU) betont hingegen, dass vor allem die staatlichen Anbieter unter dem Wildwuchs leiden. "Die einzigen, die sich an die vorhandenen Regeln halten, sind die staatlichen Anbieter, deren Überschüsse gemeinnützig verwendet werden", so Schäfer.

Online-Anbieter nutzen rechtliche Lücken in Europa

Beispiel sind Fußballwetten, wo der Deutsche Lotto- und Toto-Block mit Oddset und Toto 2017 rund 200 Millionen Euro Einsatz zu verzeichnen hatte – über 7 Milliarden Euro machten die privaten Anbieter. Das sei eine große Gefahr für die Förderung des Sports, des Ehrenamtes oder des Denkmalschutzes – denn ein Teil der Einnahmen fließt hierein. Die Online-Anbieter nutzen rechtliche Lücken in Europa – und auch die Uneinigkeit der Bundesländer.

Dank eines Regulierungsschlupflochs in Schleswig-Holstein können Online-Casinos und Wettanbieter wie das von Ex-Nationaltorwart Oliver Kahn beworbene Tipico ungehindert bundesweit um Kundschaft werben und ihre Dienste anbieten. "Viele Fans in der Fußballbundesliga jubeln ihrer Mannschaft zu, doch deren Glückspielsponsoren sind schlicht illegal", kritisiert Minister Schäfer.

Wildwuchs hinter Kaffeehausidylle

Deutschland habe sich zu einem Paradies für illegales Glücksspiel entwickelt, sagt auch Tilman Becker, Leiter der Forschungsstelle Glücksspiel der Universität Hohenheim. Die Uneinigkeit der Länder habe den Markt aufblühen lassen. Doch ein neuer Glücksspielstaatsvertrag ist nicht absehbar.

In Berlin-Neukölln ist der Wildwuchs hinter einer potemkinschen Fassade, der Illusion einer Kaffeehausidylle versteckt. Es müsse gegen illegale Café-Casinos eine konzertierte Aktion der Sicherheitsbehörden geben, fordert Hessens Finanzminister. Wer in Berlin-Neukölln die Straßen entlangläuft, sieht überall Fenster, die von außen verklebt sind mit großflächigen Bildern von Kaffeebohnen, aufgeschäumten Cappuccinos und dampfendem Kaffee.

Besonders Hinweise, dass alles videoüberwacht ist und Jugendliche unter 18 keinen Zutritt haben, irritieren. Die Tür geht auf, Rauchschwaden dringen heraus. Nach Kaffee riecht es hier nicht. An Automaten wird gedaddelt, was das Zeug hält, Euromünzen werden eingeworfen, die Spiele heißen Western Jack oder Super Hero. "Einen Kaffee bitte." Die Maschine hat schon Staub angesetzt und wurde offensichtlich länger nicht benutzt. "Entschuldigung, aber Kaffee geht nicht." Eine Trennwand daneben ist das nächste "Café". Auch dort heißt es: "Sorry, die Maschine ist heute kaputt."

Verwendete Quellen
  • dpa
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