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Arbeitsmarkt in Deutschland: Experte warnt vor gefährlicher Entwicklung


Arbeitsmarkt in der Krise
"Die aktuelle Gemengelage ist gefährlich"

InterviewVon Mauritius Kloft

29.09.2024 - 11:37 UhrLesedauer: 5 Min.
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In der Industrie ist Arbeit besonders teuerVergrößern des Bildes
Industriearbeiter (Symbolbild): Hier gibt es immer weniger Neueinstellungen. (Quelle: dpa)

Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland ist im September leicht gesunken – eine Entspannung ist aber nicht in Sicht. Im Gegenteil: Experte Holger Schäfer warnt vor einer "gefährlichen Gemengelage".

Wegen einer schwachen Herbstbelebung am Arbeitsmarkt ist die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland im September im Vergleich zum Vormonat nur leicht gesunken – um 66.000 auf 2,806 Millionen Menschen. Das sind 179.000 mehr als zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres, teilte die Bundesagentur mit.

Deutschland nimmt wegen seiner anhaltend schwächelnden Konjunktur Kurs auf die Marke von drei Millionen Arbeitslosen. Die Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, geht davon aus, dass diese Schallmauer im nächsten halben Jahr durchbrochen werden könne, wenn keine entscheidenden konjunkturellen Impulse kommen.

Doch was bedeuten diese Zahlen genau? Und wie passt der Fachkräftemangel dazu? t-online hat dazu mit dem Arbeitsmarktökonomen Holger Schäfer gesprochen.

t-online: Herr Schäfer, die Zahl der Arbeitslosen ist im September leicht gesunken, zumindest im Vergleich zum August. Sieht es auf dem Arbeitsmarkt also gar nicht so übel aus?

Holger Schäfer: Doch, und ob. Die Lage ist sogar schlechter, als sie zunächst vermuten lässt.

Wieso?

Die Arbeitslosigkeit geht immer im September zurück – man spricht von der Herbstbelebung. Doch saisonbereinigt ist die Arbeitslosigkeit gestiegen, um 17.000. Das ist nicht wenig. Bereits seit Anfang des Jahres zieht die Zahl der Arbeitslosen monatlich um 10.000 bis 20.000 an. Der Arbeitsmarkt ist zwar weit von den Höchstständen der 2000er-Jahre entfernt. Doch die ganzen Fortschritte, die seit 2015 gemacht wurden, sind jetzt verloren.

Andrea Nahles erwartet zwischenzeitlich einen Stand von drei Millionen Arbeitslosen, wahrscheinlich im kommenden Frühjahr. Halten Sie das für realistisch?

Es wäre möglich. Die Arbeitslosigkeit wird auch 2025 leicht steigen.

"Ob Nahles' Arbeit gut für den Arbeitsmarkt sein wird, muss sich zeigen", sagt Holger Schäfer, Senior Economist für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit am IW.
Holger Schäfer. (Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft)

Zur Person

Holger Schäfer ist Senior Economist für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Er studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bremen und ist seit dem Jahr 2000 für das Institut tätig. Schäfer forscht und publiziert regelmäßig zu Themen rund um den Arbeitsmarkt.

Worunter leidet denn der Arbeitsmarkt aktuell?

In erster Linie unter einer konjunkturellen Schwäche. Derzeit gibt es gar nicht so viele Entlassungen.

Ach, nein?

Entlassungen direkt können wir nicht messen, aber entsprechende Indikatoren zeigen hier keine Auffälligkeiten an. Anders sieht es jedoch bei Neueinstellungen aus.

Inwiefern?

Die Zahl der neu gemeldeten offenen Stellen ist auf einem Tief. Die Unternehmen stellen angesichts der schlechten Zukunftsaussichten weniger Leute ein. Menschen, die arbeitssuchend sind, sei es, weil ein Vertrag auslief oder sich beruflich neu orientieren, finden derzeit nur schwer einen Job.

Welche Branchen betrifft das vor allem?

Den Bau, den Handel und die Industrie. In letzterer Branche werden besonders wenige Zeitarbeiter eingestellt. Zudem gibt es nur wenige Ausnahmebereiche, die weiterhin Personal suchen: die öffentliche Verwaltung, das Gesundheits- und Sozialwesen. Also eher staatsnahe Jobs. In stromintensiven Branchen, wo es zu einem tiefen Strukturwandel kommt, geht die Beschäftigung zurück.

Gleichzeitig fehlen vielen Branchen die Fachkräfte. Wie passt das mit der aktuellen Arbeitslosigkeit zusammen?

Auf den ersten Blick ist das tatsächlich ein Paradoxon. Auf den zweiten Blick lässt sich der vermeintliche Widerspruch aber schnell erklären. Kurz gesagt: Die offenen Stellen der Unternehmen passen nicht auf die Menschen, die einen Job suchen.

Das müssen Sie ausführen.

Der Bestand der offenen Jobs geht zwar leicht zurück, ist aber insgesamt auf einem hohen Niveau. Das zeigt, dass die Firmen zwar grundsätzlich weniger einstellen. Doch für die Stellen, die sie besetzen wollen und müssen, finden sie niemanden. Das liegt daran, dass die Arbeitslosen eine andere, womöglich geringere Qualifikation haben als für die Stellen nötig wären.

Im Grunde wäre aber die Arbeitslosigkeit noch viel größer, wenn es keinen Fachkräftemangel gäbe, oder?

Ohne Fachkräftemangel hätte eine schrumpfende Wirtschaft – wie Anfang der 2000er-Jahre – noch zu starken Verwerfungen geführt. Aktuell schlägt die schwache Konjunktur nicht so krass auf dem Arbeitsmarkt durch. Die demografische Entwicklung kompensiert teils die Krise. Die Fachkräftezuwanderung hilft ebenfalls.

Die Generation der sogenannten Babyboomer geht in Rente, gleichzeitig kommen nicht mehr so viele Arbeitskräfte nach. Positiv ist diese demografische Entwicklung nicht.

Das stimmt, die aktuelle Gemengelage ist gefährlich. Denn das Produktionspotenzial – also das Potenzial, das Wertschöpfung generiert, um Steuern und Sozialabgaben zu zahlen – wird nicht ausgenutzt. Der Fachkräftemangel verstärkt die Wirtschaftskrise weiter.

Blicken wir in die Zukunft, auf die kommenden zehn Jahre. Kriegt Deutschland das Problem gelöst?

Da bin ich pessimistisch. Das Fachkräfteproblem wird sich noch verschärfen, die demografische Welle kommt mit sehr großer Macht. Die wirtschaftlichen Wachstumsraten der fetten Jahre von drei Prozent erreichen wir wohl nicht mehr häufig. Mittlerweile fehlt schlicht die Zeit, weitreichende Maßnahmen zu beschließen. Um ein Beispiel zu nennen.


Quotation Mark

Die offenen Stellen der Unternehmen passen nicht auf die Menschen, die einen Job suchen.


IW-Ökonom Holger schäfer


Gerne.

Eine Idee wäre es, Frauen mit Migrationshintergrund stärker in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Da gibt es teils – ohne zu generalisieren – große kulturelle Unterschiede, die man überwinden muss. Zudem wäre ein höheres Renteneintrittsalters ein probates Mittel. Hier braucht es jedoch lange Übergangsfristen. Doch dafür hat Deutschland nicht mehr die Zeit.

Ganz abgesehen vom politischen Willen.

Korrekt. Die Ampel will das Renteneintrittsalter leider nicht anrühren. Auch zuvor hat die Regierung mit der Rente mit 63 eher eine Möglichkeit geschaffen, früher in Rente zu gehen. Und aktuell wird über weniger Arbeitszeit diskutiert, etwa die Vier-Tage-Woche.

Welche Möglichkeiten bleiben Arbeitsminister Hubertus Heil stattdessen, dem Fachkräftemangel zu begegnen?

Die Privatwirtschaft und die Bundesagentur für Arbeit investieren aktuell Milliarden in Weiterbildung, um unterqualifizierte Kräfte fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Das ist sicher sinnvoll, doch man darf kein Wunder erwarten. Es geht schließlich immer noch um Menschen, die man nicht dazu zwingen kann und will, eine bestimmte Weiterbildung zu machen. Zumal der Staat auch nicht weiß, welche Jobs in der Zukunft gefragt sein werden – er tappt hier im Dunkeln.

Inwiefern können Fachkräfte aus dem Ausland helfen?

An dieser Stelle muss ich die Ampel auch mal loben. Die Regeln für die Migration in den Arbeitsmarkt sind sehr liberal. Leider scheitert es noch zu oft an der Umsetzung. In Deutschland sind die Wartezeiten für Visa oder die Anerkennung von Berufsausbildungen zu lang. Die Verfahren, um die Menschen in den Arbeitsmarkt zu bekommen, müssen beschleunigt werden. Auch abgesehen von der Migration in den Arbeitsmarkt, denkt sich die Ampel immer mehr Regeln aus, die sogar das Wegbleiben vom Arbeitsplatz belohnen.

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Wie meinen Sie das?

Ich beziehe mich etwa auf Pflege- oder Bildungszeiten. Für sich genommen ist es natürlich hilfreich, dass Arbeitnehmer freigestellt werden, um sich um Verwandte zu kümmern. Doch diese Maßnahmen läppern sich. Angesichts der Dramatik der Situation sollte Minister Heil seine Prioritäten überdenken.

Herr Schäfer, vielen Dank für das Gespräch!

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Holger Schäfer
  • Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
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