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Causa Kimmich: Was sollte Privatsache bleiben und was nicht?


Meinung
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Digitale Dummheit
Was sollte Privatsache bleiben und was nicht?

  • Nicole Diekmann
MeinungEine Kolumne von Nicole Diekmann

Aktualisiert am 03.11.2021Lesedauer: 4 Min.
Joshua Kimmich sprach über seinen Impfstatus – und erntete KritikVergrößern des Bildes
Joshua Kimmich sprach über seinen Impfstatus – und erntete Kritik. (Quelle: IMAGO / Eibner)
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Als Joshua Kimmich öffentlich erklärte, nicht geimpft zu sein, war der Aufschrei groß. Ist das seine Privatsache? Generell haben wir das Gefühl fürs Private verloren, vor allem online.

Morgen ist ein wichtiger Tag – zumindest für mich: Ich gehe zum Boostern. Meine zweite Corona-Impfung ist mittlerweile schon wieder sechs Monate her, mein Arzt wollte mich eh gegen die Grippe impfen und hat genug Moderna da – also: Bitte, rein damit!

Apropos rein: Habe ich Ihnen mit dieser Info gerade Zugang zu meinem Privatleben gewährt? Ist Impfen privat? Spätestens seit dem Riesenärger um den Fußballer Joshua Kimmich fragen wir uns das ja fast alle: Wo verläuft die Grenze zwischen privater und öffentlicher Sphäre in einer Frage, die moralisch aufgeladen ist, weil die Argumentationskette fürs Impfen lautet: Je mehr sich impfen lassen, desto schneller erreichen wir Herdenimmunität und desto besser können wir die Schwächsten schützen.

Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politik-Berichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf Twitter – wo sie bereits Zehntausende Fans hat. In ihrer Kolumne auf t-online filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet.

Die Überschrift des Ganzen: Solidarität. Hat Profifußballer Kimmich seine Vorbildfunktion verletzt, als er vor laufender Fernsehkamera sagte, nicht geimpft zu sein (und dies mit wissenschaftlich nicht haltbaren Thesen begründete)? Oder ist es seine Sache, ob er a) nicht besonders gut informiert und b) nicht geimpft ist? Ist der Impfstatus noch privat, wenn eine Pandemie nur von uns allen in einer gemeinsamen Anstrengung besiegt werden kann, oder wenigstens in Schach gehalten? KANN er das sein?

Fehlt Kimmich das Gespür für seine Rolle in unserer Gesellschaft, oder ist der Gesellschaft das Gespür für Privatsphäre abhandengekommen?

Was ist heute noch privat?

Nicht nur das Impfthema wirft die Frage auf: Was ist heute noch privat? Wer definiert das – und wie? Auch die sozialen Medien versetzen uns in die Lage, für uns individuell neu justieren zu müssen, was privat ist und schützenswert. Theoretisch können wir alles rauspusten. Leider scheint sich nicht jeder diese Frage zu stellen – oder aber an ihrer Beantwortung zu scheitern.

Nehmen wir zum Beispiel Cathy Hummels. Hummels hat schon sehr viel Ärger abbekommen im Netz. Ärger im Sinne von Dreck. Oft einfach nur deshalb, weil sie eine Frau ist und prominent. Für beides kann sie nichts, und solche Reaktionen sind mit nichts zu rechtfertigen.

Jüngst aber hat Cathy Hummels tatsächlich nicht schlau agiert. Da postete sie bei Instagram ein Foto von sich im Bikini (warum nicht?!), und daneben saß ihr kleiner Sohn, bekleidet mit einer Badehose. Keine gute Idee. Pädosexuelle stürzen sich auf solche Bilder, generell sollte man seine Kinder auch deshalb rauslassen aus den Social Networks.

Sie können sich nicht wehren, geschweige denn die Tragweite des Postens abschätzen – wie auch, wenn nicht mal ihre Eltern das können? (Hier der Hinweis: Auch dieses Posting von Hummels rechtfertigt keine Beleidigungen oder gar Drohungen.)

Alle Informationen online

Ganz anderes Beispiel, nicht mal ansatzweise so berühmt wie Cathy Hummels: eine Bloggerin, deren Name immer wieder in anderen Blogs auftauchte, die ich zu meinem Privatvergnügen lese. Nachdem ich ihre Postings überflogen hatte, war mein erster, oberflächlicher Eindruck: eine hochgebildete, sehr politische, humorvolle, vielseitige und streitbare Frau.

Solche lese ich gerne, also fügte ich den Link zu ihrem Blog meinem "Feierabend"-Ordner hinzu. Abends auf dem Sofa öffne ich ihn und gucke, was bei anderen tagsüber so los war.

In den folgenden Wochen erschrak ich mehr und mehr.

Die Frau schreibt sehr offenherzig. Über fast alles: über die Probleme mit ihrem Ex-Mann. Über die Probleme, die der gemeinsame Sohn in der Schule erleidet. Weil er von anderen Kindern gemobbt wird. Weil Lehrerinnen sich nicht vernünftig kümmern. Über Arbeit, über Kunden, über Kollegen, über ihren Bruder, mit dem sie nicht mehr spricht – kaum ein Thema, das nicht mit allen geteilt wird, die das für jedermann zugängliche Blog lesen. Wie gesagt: eine hochgebildete Frau.

Ich habe den Link zu ihrem Blog schnell wieder aus meinen Lesezeichen gelöscht. Weil ich mich so schämte, und weil mir das Kind leidtat. Ganz offensichtlich fehlt seiner Mutter nämlich das Verantwortungsbewusstsein, das die sozialen Netzwerke uns allen abverlangen.

Die Frau ist dort ebenfalls zu finden und postet auch Fotos von sich. Selbst ein Sherlock für ganz Arme müsste sich keine große Mühe geben, um ihren Namen herauszufinden. Und den ihres Sohnes.

Ab und zu aber guckte ich noch rein ins Blog, fasziniert wie von einem Verkehrsunfall, ich gebe es ja zu. Und sah deshalb vor ein paar Tagen, dass man inzwischen ein Passwort braucht, um es lesen zu können. Denn, oh Wunder, so erklärte es die Bloggerin auf Twitter: Es hatten Leute ihr Blog entdeckt, über die sie geschrieben hatte. Einfach so. Und nun gibt es Ärger.

Ein extremes Beispiel digitaler Dummheit

Zugegeben, das ist ein extremes Beispiel für extreme digitale Dummheit. Extrem, weil man so naiv eigentlich nicht sein kann. Weil die Lücke bei dieser Frau zwischen dem hohen Grad ihrer Ausbildung, ihrer Intelligenz und Eloquenz auf der einen und ihrem fahrlässigen Gebaren im öffentlichen digitalen Raum sensationell gigantisch ist.

Aber genau deshalb habe ich es gewählt. Weil es zeigt: Es gibt Dinge, die sind so neu, dass wir sie lernen müssen. Und zwar ganz, ganz dringend. Zu unserem eigenen Schutz, dem unserer Kinder, und damit das wichtige Gut Privatsphäre nicht gesamtgesellschaftlich zerstört wird, weil die Grenze permanent verschoben wird. Absurderweise von manchen freiwillig. Durch Unwissenheit, durch Fahrlässigkeit, durch Geltungssucht.

Morgen nach meiner Impfung geht mein Tag natürlich weiter. Es gibt einen weiteren Arzttermin, der mir ein bisschen Angst macht. Und einen, der mir ziemlich viel Spaß machen wird. Aber wissen Sie was: Das geht Sie gar nichts an!

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