Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Grüne Kanzlerkandidatin Sie ist das perfekte Hassobjekt für den Netz-Mob
In sozialen Netzwerken sind Hass und Häme an der Tagesordnung, besonders gegenüber Frauen. Für die grüne Kanzlerkandidatin dürfte der Wahlkampf herausfordernd werden.
Ich bin eine Frau. Kennen Sie? Wir sind diese Leute, die neulich in der ProSieben-Sendung "Höhle der Löwen" Thema waren. Denen endlich geholfen werden solle. Einmal im Monat nämlich, wenn "Tante Rosa" kommt, wie manche noch immer verschämt sagen. Wir aber sind ja erwachsen, also sprechen wir es aus: wenn wir menstruieren.
Zwei ausgefuchste "Höhle des Löwen"-Bewerber präsentierten vor potenziellen Investoren den Prototyp eines Handschuhs, den wir Frauen benutzen können in dieser einen Woche im Monat. Damit wir uns beim Tamponwechsel nicht mit bloßen Händen "da unten" anfassen müssen, um sprachlich mal im verschämten Denkmuster dieser bizarren Geschäftsidee zu bleiben.
Menstruieren sei eklig? Auch das Netz findet das bescheuert
Wie völlig bescheuert die Idee ist, dass daran irgendetwas eklig sein sollte, leuchtete sehr vielen Menschen sehr schnell ein. Gut, der Jury erst mal nicht. Aber vielen Frauen UND Männern, die einen Social-Media-Account besitzen. Die verstanden sich auch als Löwen – solche, denen der "pinky glove" zum Fraß vorgeworfen wurde. Und sie verspeisten ihn genüsslich: mit Humor zum Beispiel.
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politik-Berichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf Twitter – wo sie bereits Zehntausende Fans hat. In ihrer Kolumne auf t-online filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet.
Kürzen wir diese unsägliche Geschichte ab: Der Handschuh, der 2021 etwas völlig Natürliches tabuisieren sollte, ist nun eben das: Geschichte.
Leider ist dieser Fall ein besonderer. Nämlich einer, in dem die sozialen Medien Frauen mal einen guten Dienst erwiesen haben.
Frauen kriegen in den sozialen Medien mehr ab als Männer. Das Pew Research Center ermittelte, dass Männer 1,76 Mal wahrscheinlicher hasserfüllten Inhalt generieren und im Netz verbreiten als Frauen. Das, was an Hass und Hetze vorhanden ist, kommt vor allem von rechts.
Der Kölner Sonderermittler, Staatsanwalt Christoph Hebbecker, sagt: "Ungefähr 85 Prozent der von Nutzern gemeldeten Inhalte kommen aus der rechten Ecke." Und Amnesty International hat herausgefunden: Selbst exponierte und am inhaltlichen Streit sogar interessierte Frauen wie Politikerinnen, Aktivistinnen und Publizistinnen überlegen sich deshalb inzwischen zweimal, ob sie etwas posten oder nicht. Das Phänomen ist so weit verbreitet, dass es einen eigenen Namen trägt: "Silencing effect" – Verstummungseffekt.
Baerbock ist das perfekte Ziel für Internet-Agitatoren
Annalena Baerbock ist noch nicht verstummt und kann deshalb ein Lied davon singen. Sie ist auch eine Frau. Und nicht nur das: Sie steht in der Öffentlichkeit. Und nicht nur das: Sie ist Chefin. Und nicht nur das: Sie ist Chefin der Grünen. Und, das nun auch noch: Seit Montag ist sie Kanzlerkandidatin der Grünen. Zu allem Überfluss besitzt sie Accounts bei Twitter, Facebook und Instagram.
Es wird in den kommenden Monaten bei Facebook, Twitter und anderen viel darum gehen, wie die Stimme von Annalena Baerbock klingt. Wie sie angezogen ist. Wie ihre Haare liegen. Sie wird als "Fräulein" bezeichnet werden, als "Hure".
Sie wird als unglaublich dumm hingestellt werden, als lediglich wegen ihres Geschlechts nominiert. Nein, ich besitze keine Glaskugel. Dafür aber viele Jahre Social-Media-Erfahrung. Und, wir erinnern uns: Ich bin auch eine Frau.
Es wird aber auch hanebüchene und faustdicke Lügen über sie geben wie die, die aktuell kursiert: Baerbock würde gesteuert vom Milliardär George Soros. Soros dient Rechten, zum Beispiel dem rechtsextremistischen AfD-Politiker Björn Höcke, regelmäßig als Feindbild. Der Markt ist da, der Quatsch wird tatsächlich von einigen geglaubt.
Baerbock will Debattenkultur ändern – heute wichtiger denn je
Wären die sozialen Medien – gerade auch in Wahlkampfzeiten – nicht so wichtig, müsste man ihr raten, ihre Accounts zu löschen. Aber: Annalena Baerbock hat am Montag in ihrer Rede als frischgebackene Kanzlerkandidatin auch dafür geworben, die politische Debattenkultur zu ändern.
Und sie hat die Digitalisierung mit als ersten Punkt genannt, den sich die Grünen auf die Fahnen geschrieben haben. Der Schritt dahin, sich endlich auch der Debattenkultur im Netz anzunehmen, ist nicht allzu groß. Viel Geld hineinzupumpen in die Weiterbildung von Polizisten, Richtern, Staatsanwälten zum Beispiel.
Und die Schaffung von mehr Stellen. Denn die Leute in den Behörden müssen nicht nur wissen, womit sie es zu tun haben. Sie müssen auch genug sein, damit sie genug Zeit haben, ihr Wissen anzuwenden. Potenziell Strafbares zu ahnden. Diese Schritte (und viele andere, aber dazu hier demnächst mehr) sind mehr als überfällig. Es wird höchste Zeit.