Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Nach Kapitolsturm Trumps Mob hat uns allen einen Gefallen getan
Der Mob im Kapitol wollte die Demokratie lächerlich machen. Langfristig hat er sie aber womöglich gar gestärkt – und die Möglichkeit geschaffen, dass Social Media endlich reguliert wird.
Wo waren Sie, als Sie erfuhren, dass Menschen mit Waffen, bekleidet mit Pullovern mit "Auschwitz"-Aufdruck oder Büffelhörnern gerade das Kapitol stürmen? Wir alle können diese Frage beantworten, denn der Mittwoch vergangener Woche war ein historischer Moment. Einer, bei denen man sich im Rückblick selbst verorten kann:
Als die Mauer fiel, stand ich gerade in der Sakristei der St. Pankratius-Kirche in Gütersloh, weil ich damals Messdienerin war und die Abendandacht bevorstand. Als das zweite Flugzeug ins World Trade Center flog, saß ich im Auto, da lebte und studierte ich in Hamburg. Als ich vergangene Woche die Eilmeldung auf meinem Telefon aufleuchten sah, saß ich zu Hause in Berlin am Schreibtisch.
Der vergangene Mittwoch war historisch
Letzte Woche Mittwoch war historisch. Auf den ersten Blick auf eine sehr üble und bedrückende Art, aber nur auf den ersten. Denn was danach geschah, vor allem drei Tage später bei Twitter, ist ebenso historisch. Um den britischen Komiker Sacha Baron Cohen zu zitieren (genau, der "Borat"-Darsteller): "Dies ist der wichtigste Moment in der Geschichte der sozialen Medien. Die größten Plattformen der Welt haben den weltweit größten Verbreiter von Lügen, Verschwörungen und Hass verbannt", twitterte er.
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Da hatte Twitter soeben bekannt gegeben, Donald Trumps Account aus Sorge vor weiteren Aufrufen zur Gewalt dauerhaft gesperrt zu haben, und auch Facebook hatte bereits Maßnahmen ergriffen.
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politik-Berichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, rerlebt man sie auf Twitte – wo sie bereits Zehntausende Fans hat. In ihrer Kolumne auf t-online.de filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet.
Seitdem läuft die Debatte: War es richtig, Trump zu sperren? Dürfen private Plattformen bestimmen, wen die Welt liest und wen nicht? Die Antworten dürften Teile der Bevölkerung verunsichern, denn Populisten wie Trump, aber auch Akteure hierzulande versuchen, uns ihr Schwarz-Weiß-Denken aufzuzwingen: Ja, es war richtig, Trump zu sperren, und nein, eigentlich dürfte diese Entscheidung nicht bei Twitter liegen. Das findet auch die Kanzlerin. Es sei deshalb richtig, dass der Gesetzgeber dazu einen Rahmen setze, so ihr Sprecher.
Grenzen für Social Media setzen – höchste Zeit dafür
Das ist nicht nur richtig, sondern allerhöchste Eisenbahn. Solche Aussagen von sehr weit oben aus der Politik wecken die Hoffnung, dass nun endlich mal Zug in die Sache kommt, nachdem nicht nur Twitter, Facebook, Youtube und andere dem wirren und gefährlichen Treiben Trumps jahrelang zugesehen haben, sondern auch die Politik sich mehr oder minder machtlos damit abgefunden hatte, dass Twitter, Facebook, Youtube und andere dem wirren und gefährlichen Treiben Trumps jahrelang zusahen. Das Bewusstsein ist da, nun kann man auf Taten hoffen. Die Kanzlerin hat den Umgang mit den Plattformen zur Chefinnensache gemacht. Hoffentlich, hoffentlich nicht nur für dieses eine Mal. Die Gelegenheit ist historisch günstig.
Denn rein argumentativ haben die Plattformen vergangene Woche ein Eigentor geschossen: Kritik an ihrem so gut wie kritiklosen Umgang mit Hass-Superspreadern wie Trump konterten sie achselzuckend damit, sie seien lediglich neutrale Plattformen und somit für die Inhalte nicht verantwortlich. Diese Verantwortung haben sie sich nun selbst zugesprochen, indem sie sie wahrgenommen und ausgeübt haben. Sie können also, wenn sie wollen. Das aber ist das Kernproblem: Sie sollen müssen, weil der Gesetzgeber es verlangt. Nicht weil sie es wollen.
Die Politik ist blamiert. Jetzt muss sie handeln
Und noch ein zweiter Grund könnte die Politik zum endlich nachhaltigen Handeln zwingen: Sie ist blamiert. Twitter und Facebook haben gezeigt, wie mächtig sie sind. Sie haben die Machtprobe gegen Trump gewonnen. Apple und Google haben nachgezogen, indem sie die nächste Kommunikations-Kloake, den Messengerdienst "Parler", aus ihren Stores verbannt haben. Es war gerätselt worden, ob Trump womöglich dorthin ausweicht, um seine Botschaften unters Volk zu bringen. "Parler", Sammelbecken für Neonazis und andere Staatsgefährder und Staatsgefährderinnen, ist dadurch jetzt tot, niedergestreckt durch Tech-Konzerne. Auch dies: die richtige Entscheidung, exekutiert durch die Falschen.
Auch der Messengerdienst Telegram wurde schon als Alternative diskutiert, seitdem Trump bei Twitter aus dem Amt des Chef-Aufwieglers gejagt wurde. Telegram ist noch verfügbar, und ebenfalls bekannt als beliebtes Kommunikationsmittel für Menschen, die, um es freundlich zu formulieren, nicht komplett hinter dem Grundgesetz stehen.
Auch Telegram darf sich nicht der Gerichtsbarkeit entziehen
Auch Telegram dient als Beleg für die Machtlosigkeit der Politik. Auf der Website des Dienstes findet sich kein Impressum. Streng genommen, dürfte Telegram in Deutschland nicht operieren. Darauf angesprochen, zucken selbst Strafermittler mit den Schultern, die sich schwerpunktmäßig mit Hass im Netz beschäftigen. Ihnen und anderen ist es nahezu unmöglich, überhaupt auch nur jemanden zu identifizieren, der oder die als Ansprechpartner für Ermittlungen zur Verfügung steht und zum Beispiel Daten von Nutzern herausgeben könnte, die gegen Gesetze verstoßen haben könnten. Und genau damit wirbt Telegram für sich: Es arbeite nicht mit Behörden zusammen, ist auf der Seite zu lesen. So definiert sich ein rechtsfreier Raum.
Es muss was passieren. Klare Bedingungen müssen geschaffen werden, nicht nur für Hassrede im Netz und deren konsequente Ahndung. Da ist der Gesetzgeber dran; das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das sich mit genau diesem Themenkomplex beschäftigt, soll reformiert werden und steht kurz vorm Abschluss. Es braucht aber mehr Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, besser geschultes Personal bei der Polizei – kurz: mehr Geld. Und ein klares Durchgreifen gegenüber Plattformen, die als Briefkastenfirmen operieren. Apple und andere müssen verpflichtet werden, auch in solchen Fällen durchzugreifen.
Die Hoffnung ist nun da, dass was passiert. Man wird ja noch hoffen dürfen. Müssen.