Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Porträt von Attila Hildmann Die gefährliche Wutspirale nach einem "Spiegel"-Text
Attila Hildmann ist extremistisch und gefährlich. Sollte die Presse deshalb nicht über ihn berichten? Das wünschen sich zumindest viele in den sozialen Netzwerken. Ein riskanter Trend.
Wer twittert, versteht sich gern als schneller, progressiver und besser informiert als die Mehrheit derer, die nicht twittern. Und doch strukturiert man sich die Woche gern mittels Relikten aus angeblich längst vergangenen Zeiten: Der "Tatort" zum Beispiel führt sonntags regelmäßig die Twittertrends an. Für 90 Prozent dort ist es der allerletzte Dreck, der ihnen da zugemutet wird.
Anschließend knöpft man sich "Anne Will" vor. Das Thema, so die Faustregel: so gut wie immer falsch gewählt. Die Gästeauswahl: ganz offensichtlich getroffen von Dilettanten. Die Twitter-Gemeinde muss, so der Eindruck an jedem Wochenende, aus erstaunlich zahlreichen Masochistinnen und Masochisten bestehen; so viel Schlimmes, wie die sich freiwillig antun.
Warm läuft man sich für das Hyperventilieren am Freitagabend, wenn der "Spiegel" erscheint. Auch er gehört zu den Lustobjekten der sich selbst inszenierenden Twitteria.
Twitter tobt über ein Attila-Hildmann-Porträt
Aktuell schraubt man sich in eine Wutspirale ob eines Attila-Hildmann-Porträts. Für all diejenigen, die dessen Wahnsinn bisher noch nicht erreicht hat, in Kürze: Hildmann schrieb ein paar vegane, sehr erfolgreiche Kochbücher. Im Zuge der Corona-Krise nun entdeckte er den Widerständler in sich, der einer angeblichen Verschwörung die Stirn bietet. Dahinter stecken seiner kruden Ansicht nach Bill Gates, die Bundesregierung, das Judentum und andere, nennen wir sie "Man kann es gar nicht zusammenfassen, weil es so irre ist"-Kräfte.
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politik-Berichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf Twitter – wo sie bereits Zehntausende Fans hat. In ihrer Kolumne auf t-online.de filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet.
Hildmann hat sich auf Instagram schon mal mit einer Waffe ablichten lassen: Er ist zum Äußersten bereit. (Instagram auch, Hildmanns Account wurde gesperrt.) Er ist ein von der Komplexität dieser Welt offensichtlich überforderter Geist. Auf Telegram, dem Kanal für die, denen Whatsapp zu harmlos ist, hetzt und fantasiert er, ebenso auf Demos, mittlerweile ermittelt der Staatsschutz – wegen Volksverhetzung, Verharmlosung des Holocaust und Morddrohungen.
Darf Presse betrachten, statt direkt zu urteilen?
Hildmann findet sich zuverlässig in den Twitter-Trends. "Avocadolf" hat man ihn dort getauft. Er ist ein großes Thema. Der "Spiegel" griff die Debatte auf, ging mit Hildmann unter anderem in den Wald und der Frage nach: Wer ist dieser Mann, was treibt ihn an, wie konnte es so weit kommen?
Das Ganze ist ein Porträt. Keine Anklageschrift, kein Pamphlet. Kein Aufruf, seine Produkte nicht mehr zu kaufen oder nicht mehr in seinem Imbiss essen zu gehen.
Twitter ist mal wieder auf Zinne.
Wie man es wagen könne, so jemandem eine Bühne zu bieten, lautete der vorhersehbare Tenor. Der "Spiegel" würde jemanden hochschreiben, der das nicht verdient.
Gelesen hat den Text kaum jemand, eine Meinung haben alle
Schnell ist man zur Stelle mit teils hinkenden Vergleichen: Der "Spiegel" hätte sicherlich auch mit Hitler einen schönen Spaziergang gemacht, ist da zu lesen. Als stünde Hildmann auch nur ansatzweise vor der Organisation einer erfolgreichen politischen Bewegung.
Man könne Hildmann ja auch zum Sommerinterview einladen, ätzt jemand anderes. Diese Analogie offenbart Kontextwissen, schließlich hatte der rbb erst vor wenigen Wochen den Rechts-rechtsaußen-AfDler Andreas Kalbitz zum Sommerinterview geladen – und das dann dermaßen schwach geführt, dass selbst der Sender zerknirscht laut darüber nachdachte, ob eine intensive Vorbereitung womöglich besser gewesen wäre.
Doch auf das Wie zielte die Kritik vieler gar nicht ab – sondern auf das Ob. Es sei grundsätzlich falsch, ihn überhaupt einzuladen, hieß es. Wie auch bei Attila Hildmann: Viele derjenigen, die sich nun auf Twitter aufregen, können zum Wie nämlich gar nichts sagen. Fragt man nach, offenbart sich: Sie haben das Porträt gar nicht gelesen. Ihre Erklärung: Na, der Text sei ja hinter einer Bezahlschranke, und NATÜRLICH habe man ihn dann nicht gekauft!
Viele fordern Aktivismus statt Journalismus
Es geht um das Ob, und es geht um die Rolle von Journalistinnen und Journalisten. Sie sollen für eine Sache eingespannt werden, sie sollen als Aktivistinnen oder Aktivisten wirken – die man dann ironischerweise für ihre Arbeit aber doch lieber nicht bezahlen will. Oder doch, wenn sie ins eigene Weltbild passt?
Diese Debatten hinterlassen Spuren, auch in den Redaktionen. Die Psychologin Sophie Leisenberg arbeitet seit einigen Jahren mit Medienschaffenden nach Shitstorms. Sie spricht von einer Schere im Kopf: Aus Angst vor eben diesem Stress im Netz komme es bisweilen zur Selbstzensur.
Bisher wurde dies fast ausschließlich nach orchestrierten Aktionen der Rechten thematisiert; "Oma-Gate" ist wohl das beste Beispiel, als der WDR nach einem Satire-Lied sehr schnell einknickte.
Doch dieser Druck kommt zunehmend auch von der anderen Seite, aus der linken Ecke. Von denen, die sich als Counterpart von Rechtsextremen sehen, sich also eine gute Sache auf die Fahnen geschrieben haben. Das muss man erst mal loben, aber es sei daran erinnert: Wer für die Demokratie kämpft, sollte die Presse Presse sein lassen – denn wer sich von der einen Seite instrumentalisieren lässt, lässt sich auch von der anderen Seite instrumentalisieren.