Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Eine Störung legt die Welt lahm War es Russland?
Der weltweite IT-Ausfall hat ein weltweites Chaos ausgelöst. Doch was geschieht, wenn uns die digitale Welt im Stich lässt? Unsere Kolumnistin Nicole Diekmann berichtet.
Gestern war ein Tag, von dem ich nie gedacht hätte, ihn zu erleben: Gestern habe ich alles, was an Digitalisierung existiert, verflucht.
In Berlin sind seit Donnerstag Sommerferien. Leider aber nur an Schulen. Mein Arbeitgeber ist keine Schule, also muss ich weiter ran. Das Kind geht in den Schulhort. Wir müssen morgens also weiterhin aufstehen.
Die Eule in mir hatte etwas dagegen; mein Unterbewusstsein ließ mich den Wecker ausstellen, der uns jeden Morgen um 6.30 Uhr weckt. Es kam, wie es kommen musste: Wir verschliefen, und entsprechend hektisch gestaltete sich der Morgen – spätestens um 9 Uhr nämlich musste das Kind im Ferienhort eingetroffen sein, danach wird die Annahme verweigert.
Zur Person
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf der Plattform X – wo sie über 120.000 Fans hat. Dort filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. In ihrem Podcast "Hopeful News" spricht Diekmann jede Woche mit einem Gast über die schönen, hoffnungsvollen – einfach GUTEN Nachrichten. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz".
Mangels Zeit verzichtete ich ausnahmsweise auf das liebevolle Gestalten von vitaminreichen Pausensnacks, in stundenlanger Handarbeit geformt zu Dinos und Blumen. Stattdessen trabten wir zum Biomarkt um die Ecke, um schnell ein paar Brezeln zu kaufen. Tja. So der Plan. War aber Essig mit Brezeln: An der Tür hing ein Zettel. IT-Probleme. Markt geschlossen.
Ich plante um, gab das Kind erst mal artig um 8.59 Uhr im Hort ab und sprintete zum Bäcker. Der hatte auf – wollte aber Cash. Und ich habe so gut wie nie Bargeld dabei. Entweder halte ich mein Handy auf ein Gerät oder aber meine Uhr. Und wenn gar nichts anderes geht, von mir aus auch ganz altmodisch meine EC-Karte. Corona hat mich zumindest in dieser Hinsicht zu einem glücklicheren Menschen gemacht: Plötzlich war es auch in fast allen deutschen Läden möglich, mit Karte zu zahlen. Wie in so modernen Ländern.
Vertrauen hilft im Notfall
Also hechtete ich rüber zum Geldautomaten, um Geld abzuheben – ja, Sie können es sich schon denken: ging nicht. Glücklicherweise kennt man mich beim Bäcker. Die Währung der Stunde lautete: Vertrauen, ich ließ anschreiben, kehrte mit Brezeln und der Ahnung in die Schule zurück, dass dies ein schwieriger Tag werden würde, und stieg in die S-Bahn gen Büro.
Ich sag', wie es ist: Ich fuhr ohne Fahrschein, denn in der App konnte ich keinen lösen. "Wartungsarbeiten", zeigte mir mein Handydisplay an. Der Automat selbst streikte auch. Nun wohne ich erstens in Berlin, wo "funktioniert nicht" für manche Leute immer noch gleichbedeutend ist mit "supersexy". Zweitens gehört die hiesige S-Bahn zur Deutschen Bahn, wo ja bekanntlich kaum noch etwas funktioniert. Und es auch typisch wäre, Wartungsarbeiten an einer Fahrkartenapp für den ÖPNV der Hauptstadt an einem Werktag in den Morgenstunden anzuberaumen. Wenn nämlich die meisten Leute auf dem Weg zur Arbeit sind. Wann auch sonst? Zudem sagt die Deutsche Bahn ja inzwischen, sie sei nicht von der weltweiten Störung betroffen gewesen. Was die Bräsigkeit der Bahn ja übrigens zusätzlich belegt: Wäre ich die Bahn, hätte ich einfach so getan, als ob. Hätten endlich mal die anderen versagt!
Das dünne, glatte Eis des Analogen
Als eine straffällig gewordene, dabei aber zum Glück nicht aufgeflogene Frau erreichte ich das Büro. Das ungute Gefühl, das mich dabei begleitete, hatte nicht mal etwas mit meinem Schwarzfahren zu tun, sondern mit der Erkenntnis: Die Digitalisierung ist alternativlos. Sie macht uns gleichzeitig aber auch sehr, sehr anfällig. Und mit der Frage: War es der Russe? Und wenn ja: Was hat er noch vor? Wie gut abgesichert sind Krankenhäuser, Einsatzzentralen – also, die berühmte kritische Infrastruktur – und, auch nicht ganz unwichtig: unsere Daten?
Es fühlte sich in etwa so an, wie das Haus ohne mein Smartphone zu verlassen. Das dünne, glatte Eis des Analogen – ich beherrsche die sorglose Bewegung darauf nicht mehr. Abgeschnitten zu sein vom Rest der Welt, so wie am Freitag ja etliche Menschen, die fliegen wollten – es ist die Hölle der Moderne. Dafür fällt alles Digitale in meinem und in unser aller Alltag ja viel zu sehr ins Gewicht. So sehr wir hierzulande auch hinterherhinken und so banal meine eigenen Probleme aus diesem weltweiten Problem an diesem Tag Gott sei Dank auch ausgefallen sind – es zeigt unsere Verwundbarkeit. Der deutlichste Beleg dafür ist die Erleichterung darüber, dass es eben nicht der Russe war. Sondern "nur" ein folgen- und milliardenschwerer Fehler einer Firma, mit der man nun wirklich nicht tauschen möchte. Ein falsches Update legt die halbe Welt lahm. Unschön.
Abschied und verpasste Zeit
Wenn aber, das möchte ich an dieser Stelle noch betonen, so etwas schon passiert – dann doch wenigstens vernünftig getimt: Am Donnerstagabend nämlich ist meine Freundin Eva in Berlin in ein Flugzeug gestiegen und nach Wien entschwebt. Vermutlich für immer. Dort lebt sie jetzt nämlich mit ihrer Familie. Vor ihrer Abreise haben wir beide noch geweint. Mit ein wenig Glück hätte dieser IT-Crash uns noch ein paar Stunden geschenkt, wenn er circa 12 Stunden früher passiert wäre. Auf nichts kann man sich verlassen.