Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Erinnerungskultur in Deutschland Ich stolpere nicht mehr darüber
Zivilgesellschaftliches Engagement gegen Hetze und Antisemitismus gibt es auf der Straße und gottlob auch im Netz. Doch es ist nicht mehr selbstverständlich, wie ein Beispiel zeigt.
Sehen Sie auch noch die roten Rosen, vom Novemberregen zerzaust, auf den Straßen liegen? Hier, in meinem Viertel, laufe ich derzeit jeden Tag an ihnen vorbei. Mitunter brennen auch noch Kerzen neben den ins Pflaster eingelassenen kleinen goldenen Gedenktafeln: Jedes Jahr am 9. November wird den Steinen noch einmal besondere Aufmerksamkeit zuteil. Dann werden Kerzen neben sie gestellt und Blumen abgelegt.
Am Jahrestag der Pogrome von 1938, als jüdische Geschäfte und Synagogen brannten, erfahren die Stolpersteine besondere Aufmerksamkeit. Das ist gut und wichtig, denn, ich muss das offen zugeben: Ich beschäftige mich zwar schon allein durch meinen Job permanent mit Rassismus, Antisemitismus und anderen menschlichen Abgründen. Und trotzdem stolpere ich beim Schlendern nicht mehr über die Steine, die initiiert vom Künstler Gunter Demnig seit 1992 in Deutschland und 30 anderen europäischen Ländern verlegt werden. Sie sollen darauf hinweisen: Hier lebten Juden. Mitbürger, Väter, Mütter, Kinder. Von hier aus wurden sie deportiert. Die allermeisten von ihnen haben das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte nicht überlebt. Wir sind das Tätervolk.
Menschen stumpfen schnell ab
Fester noch als die Steine in den Boden muss daher die Verantwortung für das Gedenken in unsere Kultur eingelassen sein. Wie gesagt: Ich sehe die Steine noch, aber ich stolpere nicht mehr über sie. Und so wird es anderen auch gehen. Erinnerungskultur, um Schlimmes zu verhindern, braucht permanentes Erinnern. Denn wir Menschen gewöhnen uns schnell, wir stumpfen ab. So sind wir. Und deshalb können und müssen wir alle dazu beitragen, dass "Nie wieder" jetzt ist. Und das findet ja auch statt: Die Rosen und Lichter neben den Steinen haben einfache Bürger hingelegt. Das nennt man zivilgesellschaftliches Engagement.
Das übrigens auch im Netz stattfindet, klar. #NieWieder trendet zum Beispiel regelmäßig in den sozialen Netzwerken seit dem barbarischen Überfall der Hamas-Terroristen auf Israel. Es finden sich tagtäglich in Posts gegossene Stolpersteine. Ebenso übrigens wie die Debatten um die dringend notwendige Unterscheidung zwischen Terroristen und Muslimen, um gefährliche Schubladen, um einen Generalverdacht, der Gift ist für unser Zusammenleben. Diskussionen wie die, warum die Polizei in diesem Jahr bereits mehr Angriffe auf Flüchtlinge verzeichnet als 2022.
Die Debatten entgleisen leider regelmäßig, und das Netz darf selbstverständlich nicht der einzige Ort sein, an dem sie stattfinden. Aber es ist ein wichtiger Ort dafür. Zivilgesellschaftliches Engagement muss es auch in der Digitalversion geben.
Wie aber steht es um das Bekenntnis und das Engagement der Betreiber der Plattformen, auf denen diese Debatten stattfinden, also der Netzriesen selbst? Eine Frage, die regelmäßig auftaucht. Übrigens auch schon, bevor Elon Musk Twitter kaufte, das jetzt X heißt, und dort antisemitische Accounts, Neonazi-Größen und AfD-freundliche Posts adelte.
Aktuell lässt ein Fall mit Berliner Bezug aufhorchen. Einer, der nicht bombastisch ist. Keiner, in dem sofort ein Schuldiger benannt werden kann. Und der gerade deshalb höchst interessant ist: Weil er den Grundsatz "Wehret den Anfängen" so anschaulich unterstreicht.
Eintrag gelöscht – ohne Angabe von Gründen
Ein Leser der Berliner Regionalzeitung "Tagesspiegel" hat auf Google Maps im Osten der Hauptstadt ein Arbeits-Durchgangslager markiert. Von dort aus sollen zwischen 1942 und 1945 Osteuropäer als Zwangsarbeiter an Berliner und Brandenburger Betriebe weitergeschickt worden sein. Nun hat Google dem Mann mitgeteilt, dass es den Eintrag gelöscht hat. Ohne dies detailliert zu begründen.
Auf Nachfrage des "Tagesspiegel" teilte Google lapidar mit, man werde sich mit der Löschung beschäftigen, äußere sich aber nicht zu Einzelfällen. Das kann man so machen. Das sollte man aber nicht so machen. Denn "Einzelfall" ist nicht gleichzusetzen mit "Lappalie". Vielleicht hat der Leser ein falsches Datum eingetragen. Vielleicht fehlen Belege, vielleicht stimmt seine Markierung nicht exakt mit dem damaligen Standort des Lagers überein. Das kann alles sein, und es wären gute Gründe für die Entscheidung.
Was allerdings nicht übereinstimmt: Die Sensibilität des Themas und die Sensibilität des Umgangs damit. Die Bedeutung und der Einfluss, den Google besitzt, und das Verantwortungsbewusstsein, das auch in der Kommunikation nach außen bestehen muss. Google macht sich da einen zu schlanken Fuß. Doch der "Tagesspiegel" kündigt bereits jetzt an: "Wir werden wieder dran erinnern." Eine Ankündigung wie ein Stolperstein.
- Tagesspiegel: "Google löscht Gedenkstätte für Nazi-Arbeitslager aus Kartendienst"