TV-Tipp 1979 - Urknall der Gegenwart
Berlin (dpa) - Es gibt einige Jahreszahlen, die gern als historischer Einschnitt gesehen werden. 1918 mit dem Ende des Ersten Weltkrieges etwa. Oder das Mauerfalljahr 1989. 1979 hingegen verbinden vermutlich nur wenige Menschen mit einer Zeitenwende. Dabei wurden in jenem Jahr bedeutende Weichen für unsere Gegenwart gestellt.
Der Aufstieg Ajatollah Chomeinis im Iran, die Atomkatastrophe im amerikanischen Harrisburg, das Aufkommen der Grünen in Deutschland, der Machtwechsel in Peking und und und. Die Regisseure Dirk van den Berg und Pascal Verroust sortieren die wichtigsten Fäden, der Kultursender Arte zeigt ihre Doku "1979 - Urknall der Gegenwart" am Dienstag um 20.15 Uhr.
Einer der wichtigsten Schauplätze des Jahres ist Teheran. Als Schah Reza Pahlavi auf Druck der westlichen Regierungschefs den Iran verlässt, sind auf den Straßen der persischen Hauptstadt unzählige Menschen zu sehen: tanzend, überglücklich, völlig westlich gekleidet. Für ihn kommt Ajatollah Chomeini. Frankreich ist froh, den neuen starken Mann im Iran los zu sein, Chomeini hat in Europa jahrelang im Exil gelebt. Die Aufnahmen des schwarz gekleideten Bärtigen mit Turban, der ernst und still mit einer Journalistenmeute nach Teheran reist, sind bizarr anzusehen.
"Sein Versprechen war totale Demokratie", erinnert sich Literaturprofessorin Haideh Daragahi an Chomeini. Kaum etwas ist damals über den Geistlichen bekannt, der in der ersten Rede "Unheil den Feinden des Volkes Gottes und der Religion" androht. "Als er sprach, mussten wir sehr lachen", sagt die Soziologin Chahla Chafiq. "Denn er benutzte ein völlig ungebräuchliches Persisch. Vielleicht war es auch aufgesetzt. Er vermischte es mit Worten aus dem Koran." Die westlichen Regierungen haben 1979 gehofft, Ruhe am Golf zu haben, stattdessen ist der Grundstein des islamischen Gottesstaats gelegt.
Schwierige Zeiten auch in Großbritannien: Die Krise in der Schwerindustrie kostet viele Tausend Arbeitsplätze. Die Gewerkschaften überziehen das Land mit Streiks. Der Müll wird nicht abgeholt, Kranke werden in Kliniken nicht behandelt. "Der Gipfel von allem war, dass die Toten nicht mehr begraben wurden", erinnert sich der britische Politiker Michael Heseltine. Denn sogar die Totengräber streikten. In das kollektive Gedächtnis der Briten ist der Winter 1978/79 als "Winter des Missvergnügens" eingegangen - in Anspielung auf Shakespeares Drama "Richard III.". Margaret Thatcher nutzt ihre Chance und löst die Labour-Regierung von James Callaghan ab. Eine Frau rückt an die Spitze einer führenden Industrienation. Der Abstieg der einst übermächtigen britischen Gewerkschaften hat begonnen.
Unterdessen begrüßt Jimmy Carter in den USA an einem riesigen Passagierjet einen Staatsgast, der schon auf der Gangway sich selbst applaudiert, wie es in autokratischen Staaten üblich ist. Der chinesische Parteiführer Deng Xiaoping hat in seiner Heimat die Abkehr von Mao eingeläutet und findet in Carter einen dankbaren Ansprechpartner. Beide beschließen zum 1. Januar 1979 die Normalisierung der amerikanisch-chinesischen Beziehungen. Es ist der Anfang von Chinas Aufstieg zur Weltmacht der Gegenwart.
Mit Papst Johannes Paul II. rückt derweil ein Pole an die Spitze des Vatikans. Der polnische Rundfunk versteckte diese Meldung mitten im Nachrichtenblock. "Als wir die Nachricht hörten, begriffen wir sofort, dass sich damit das Ende des Kommunismus abzeichnete. Ob in einem Jahr oder in zehn Jahren", sagt der damalige Theologiestudent Alfred Wierzbicki. In der frustrierenden Mangelwirtschaft macht die Nachricht Millionen Polen Hoffnung. Die kommunistischen Oberen ahnen indes, dass sie den Kampf um die Herzen bereits verloren haben.
Das Thema Umwelt rückt 1979 in den Vordergrund. Die Beinahe-Kernschmelze im US-Meiler Harrisburg macht der Weltgemeinschaft schlagartig klar, dass die als günstige und unbegrenzte Alternative zum Öl präsentierte Atomenergie auch ungeheure Risiken birgt. Mit dem Charney-Report legen internationale Wissenschaftler einen Bericht zur globalen Klimakrise vor. Dass die Grünen ihren ersten Anlauf zur Europawahl machen, ist bei diesem Zeitgeist nur folgerichtig. Dirk van den Berg und Pascal Verroust präsentieren eine bunte Bilderflut, die ein fernes Jahr sehr nahe heranrücken lässt. Es ist Geschichtsunterricht vom Feinsten.