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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Das Geschäft mit der Empörung Willkommen in der Albtraumfabrik
Sie liefern sich die Schlammschlacht des Jahres: Amber Heard und Johnny Depp. Live und in allen Details blicken Millionen Menschen weltweit auf den Promi-Prozess. Dabei stehen die Verlierer längst fest.
Als sie am Mittwoch um etwa 15.30 Uhr ihren Arm hebt, kann die Show beginnen. Der groß angekündigte Auftritt von Kate Moss folgt. Das Supermodel sitzt mit versteinerter Miene vor einer kargen weißen Wand. Weiße Bluse, schwarzer Blazer, die blonden Haare auffallend unauffällig gestylt. Sie liefert eine spektakuläre nächste Episode im an Spektakel nicht gerade armen Zivilprozess zwischen Amber Heard und Johnny Depp.
Oder auch nicht.
Kate Moss redet nur wenige Minuten. Nein, Johnny Depp habe sie niemals geschubst. Geschlagen? Nein, auch das nicht. Auftritt beendet. Der Videostream, mit dem die 48-Jährige live in den Gerichtssaal im US-Bundesstaat Virginia geschaltet wird, färbt sich schneller schwarz als ihre Wimpern am Morgen vor dem Zeugenauftritt.
Ob die geifernden Massen enttäuscht in die Röhre gucken? Die Erwartungen waren groß, am Mittwoch landet der Suchbegriff "Kate Moss" schon früh in den Twittertrends. Als der Kurzauftritt vorbei ist, heißt es: "Johnny Depp kann aufatmen", "Wieder eine Lüge von Amber Heard aufgedeckt", "Mein Herz hält das nicht aus". Es sind nur einige von unzähligen Reaktionen, die in den sozialen Medien in einen lautstarken Chor einstimmen. Heard, die Lügnerin. Depp, der Held.
Verhärtete Fronten: Heard-Verteidiger gegen Depp-Jünger
Wer in diesem Prozess für wen ist, steht längst fest. Die Fronten haben sich in den sechs Wochen, in denen die beiden Hollywoodstars vor Gericht streiten, kein Stück verschoben. Es gibt das Lager, das Depp einen Frauenschläger nennt, wie es der Prozess um das britische Blatt "The Sun" im Jahr 2020 festgehalten hat. Und es gibt die "Fluch der Karibik"-Jünger, die sich schützend vor ihr Idol stellen, als wären sie persönliche Zeugen im Schlafzimmer der einstigen Eheleute gewesen.
Warum also diese Schaulust? Wieso Livestreams, tagtäglich auf unzähligen Nachrichtenseiten, US-Sendern und Videoplattformen? Weshalb schalten die Menschen ein, wenn sie doch ohnehin wissen, wer hier lügt und wer im Recht ist? Dieser Gerichtsprozess erzählt viel mehr als die skandalösen Details einer toxischen Beziehung. Kein Mensch kann ernsthaft glauben, dass zig Millionen Abrufe für "Highlight"-Clips, "schockierende Momente" und "lustige Szenen" zusammenkommen, weil die Zuschauer an Gerechtigkeit interessiert sind.
Ob Johnny Depp mit seiner Verleumdungsklage gewinnt und die geforderten 50 Millionen Dollar Schadenersatz einstreicht oder Amber Heard ihre im Gegenzug aufgerufenen 100 Millionen Dollar wegen körperlicher Gewalt und Missbrauchs erhält, gerät in diesem Livespektakel für die Massen zur Nebensache. Wie bei einem Drittligaspiel zwischen verfeindeten Fußballklubs: Die spielerische Klasse, das Ergebnis, alles rückt in den Hintergrund, wenn ein Flammenmeer auf den Tribünen entbrennt, pöbelnde Anhänger enthemmt ihre Emotionen ins Stadionrund brüllen und Transparente mit Hassparolen ausgerollt werden. Neben dem Platz ist entscheidend.
Das Hochglanzbild der Hollywood-Prominenz zerfällt
So auch hier, nur in hochklassig. Welchem millionenschweren Hollywoodstar können Fans sonst derart ungeschönt in die Intimsphäre blicken? Hier wird keine schmutzige Wäsche beim Nachbarplausch im Hinterhof gewaschen, hier werden privateste Enthüllungen auf dem Streaming-Tablett serviert: live und in Farbe, bis ins letzte Detail. Der Zuschauer als Voyeur. Die Neugierde als Sensationslust. Dieser Rosenkrieg zweier weltbekannter Schauspieler hat nur einen Gewinner: das Publikum. Es kann sich suhlen in den plötzlich so stinknormalen und zugleich perversen Geschichten, die so gar nicht zu dem Hochglanzbild der Stars passen, die sonst von PR-Agenturen, Managements und Beratern sorgsam gepflegt werden.
Sie sitzen da, Heard und Depp, in sündhaft teuren Designerklamotten und sind trotzdem nackt. Bis in die tiefsten Körperregionen entspinnen sich die abstrusen Erzählungen, von einem kokainsüchtigen Filmstar, der auf der Suche nach seinem Stoff in seiner Ehefrau herumbohrt. Kein noch so irres Hollywood-Drehbuch kann solche Geschichten liefern. Das hier ist die Albtraumfabrik von Virginia und kein Stadtteil von Los Angeles.
Kein Wunder, dass US-Fernsehmacher wie Rachel Stockman, Chefin einer der größten Übertragungsplattformen, betonen: Dieser TV-Prozess bricht alle Quotenrekorde. Dass die Art der Inszenierung und Amber Heards Rolle in dem Trash-Drama der Debatte um häusliche Gewalt einen Bärendienst erweisen? Geschenkt. Acht Millionen TikTok-Klicks für #IStandWithAmberHeard gegen 15 Milliarden auf Seiten von #JusticeForJohnnyDepp sprechen eine klare Sprache.
Wir erwähnten es bereits: Die Gerechtigkeit hat in diesem Streifen höchstens einen Cameo-Auftritt, mit einem Credit, der nach dem Ende der Anhörungen am 27. Mai von den Geschworenen ausbuchstabiert wird. Ein trostloser Abspann, ohne Happyend. Die Lager werden sich weiter unversöhnlich, ohne jedes Interesse an ausgleichender Differenzierung gegenüberstehen.
Das Geschäftsprinzip der Empörungsmaschinerie
Dieser Prozess ist nur für eine Sache gut: Die Erkenntnis, dass Getöse immer funktioniert. Erst recht, wenn es mit zwei weltbekannten Marken als Etikette daherkommt. Genau deshalb sollten wir froh sein, dass vergleichbare Gerichtsfälle in Deutschland nicht live im Internet gestreamt werden. Daraus entspinnt sich nur ein Geschäft mit Hobbyrichtern als Laiendarsteller, die die Welt nicht zu einem besseren Ort machen, im Gegenteil.
Das Geschäftsprinzip ist so alt wie bekannt: Was aufregt, animiert zum Mitmachen. Menschen klicken die Clips, teilen die Ausschnitte, interagieren in den sozialen Medien. Anfeindungen, Hass und Schadenfreude sind dabei Mitleid, Empathie und dem Willen zur Dialektik hoch überlegen. Insofern erscheinen Heard und Depp wie das heillos überdrehte Abbild der Social-Media-Gesellschaft: Diffamierung first, Nachdenken second – und die Mehrheit schweigt oder sitzt höhnisch grinsend vor dem Bildschirm und genießt das Gefecht der Empörung.
Die Verlierer stehen dabei längst fest: Amber Heard und Johnny Depp. Zwei Filmstars, die derart beschädigt aus diesem Prozess gehen werden, dass ihnen eine weitere, schillernde Karriere verwehrt bleiben wird. Womöglich schlittern sie noch in eine weniger glamouröse Zweitkarriere: ins Reality-Geschäft. Hierzulande sind Trash-Formate wie das Dschungelcamp, "Promi Big Brother" oder "Das Sommerhaus der Stars" Resterampen für die ruinierte Prominenz und Bühnen für solche, die mal prominent werden wollen.
Diese Shows funktionieren nach den gleichen Mechanismen wie die Hollywood-Schlammschlacht zwischen Heard und Depp: Millionen Zuschauer laben sich an der zur Schau gestellten Erniedrigung, erfreuen sich an schmutzigen Anekdoten, frivolen Geschichten und der Genugtuung, den armen Promi-Seelen gemütlich von der Couch aus beim Scheitern zuzusehen. Amber Heard und Johnny Depp wären für jeden Fernsehsender oder Streaminganbieter ein gefundenes Fressen – und der nächste Quotenrekord ist garantiert.
- Eigene Recherchen