Pop-Musical Kino-Triumph eines Kultduos: "Annette" von den Sparks
Berlin (dpa) - Es kommt nicht oft vor, dass ein großes Filmfestival wie Cannes von einem Musical eröffnet wird. Erst recht nicht, wenn dessen Kompositionen von einer der schrillsten und unberechenbarsten Bands der Pop-Geschichte stammen, deren Mitglieder deutlich über 70 sind.
Im Fall des mit Weltstars besetzten Kinomusicals "Annette" kommt all dies zusammen. Und schon der vorab erschienene Musical-Soundtrack deutet an, dass wir es hier (mindestens) mit der feierlichen Krönung der Sparks zu Elektropop-Königen nach 50 wilden Karrierejahren zu tun haben. Ein Dokumentarfilm über das hochverdiente US-Kultduo steht ebenfalls in den Startlöchern.
Die "Annette"-Songs der Brüder Mael werden im Film unter anderem von den Hauptdarstellern Adam Driver (37, "Marriage Story") und Marion Cotillard (45, "La vie en rose") gesungen - und sie sind fantastisch. Gewohnt furchtlos verrühren die Sparks Synthiepop, sinfonischen Art-Rock, Opernbombast und herrlichen Balladenkitsch zu einer knallbunten Mixtur.
Falls der Gesamteindruck des ersten englischsprachigen Films von Regisseur Leos Carax (60, "Die Liebenden von Pont-Neuf") ähnlich umwerfend ist, dürfen die Premierengäste der 74. Filmfestspiele von Cannes am 6. Juli Großes erwarten.
Dass die Sparks irgendwann mal ein ambitioniertes Kinoprojekt durchziehen würden, lag auf der Hand. Denn großleinwandfüllend waren ihre Lieder schon immer, angefangen beim Album "Kimono My House" von 1974 mit dem Hit "This Town Ain't Big Enough For Both Of Us".
Bereits seit der Gründung Anfang der 1970er Jahre in Los Angeles besteht die Band aus Keyboarder und Multiinstrumentalist Ron Mael (75), dem Mann mit dem adretten Bärtchen, sowie dem exzentrischen Sänger Russell Mael (72). Es gab immer mal Flaute-Phasen, aber danach kehrten die Brüder doch wieder mit Hits zurück, etwa "The Number One Song In Heaven" oder "Lil' Beethoven".
Aus dem Konzeptalbum wird ein Film
Bei der Veröffentlichung von "A Steady Drip, Drip, Drip", einem weiteren Top-10-Album im vorigen Jahr, war bereits von einem prominent besetzten Musical die Rede. Ursprünglich hatten die Sparks "Annette" nur als Konzeptalbum geplant, berichtet ihr Label Sony Classical. Es ging den Maels um "eine zusammenhängende Geschichte, die aus drei Hauptfiguren und einem Ensemble besteht, das klein genug ist, um diese 'Oper' auch live auf Tournee zu präsentieren".
Nach einem Treffen mit dem französischen Regisseur Carax sei daraus dann aber ein Film entstanden, die Texte der 15 Lieder wurden von allen dreien gemeinsam geschrieben. "Wir waren total überrascht und hocherfreut über seine Reaktion", so das Pop-Duo in einem Statement. "Als Fans von Leos Arbeit zu erfahren, dass er bei einem Film von uns Regie führen würde, hätten wir uns nicht träumen lassen."
Carax selbst nutzte die Zusammenarbeit zu einem späten Geständnis: "Ich entdeckte die Sparks, als ich etwa 14 war - ich habe das Album 'Propaganda' in einem kleinen Plattenladen in La Défense in Paris gestohlen, weil mir das Cover so gefiel. (...) Ohne sie hätte ich nie gemacht, wovon ich seit meinen Anfängen im Film geträumt habe: einen 'Film in Musik'."
Ein geheimnisvolles kleines Mädchen
Worum es im Musical "Annette" geht, darauf geben die von den Sparks, einem grandios auftrumpfenden Driver, einer anrührenden Cotillard und großem Chor gesungenen Songs erste Aufschlüsse. "Henry ist ein freimütiger Stand-Up-Comedian, Ann eine weltberühmte Sängerin. Sie sind ein glückliches Promi-Paar, das im Scheinwerferlicht lebt, aber ihre Welt wird durch die Geburt ihres ersten Kindes, Annette, auf den Kopf gestellt. Ein geheimnisvolles kleines Mädchen mit einem außergewöhnlichen Schicksal", verrät Sony vor der Cannes-Premiere. Der Trailer kündigt ein hochemotionales Erlebnis an.
Im August soll der Film in Kinos gezeigt werden und kurz danach auch über Amazon Prime Video. Groß gefeiert werden die Musical-Komponisten wohl in Kürze gleich noch einmal - in der Dokumentation "The Sparks Brothers" vom britischen Filmemacher Edgar Wright ("Baby Driver"). Über "Annette" sagt der 47 Jahre alte Sparks-Langzeitfan, dieses Musical sei "genauso brillant, wie ich es mir erträumt hatte".